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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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blickenden Brüdern und Schwestern.
    »Xalon gehört zur Gruppe des Hirten«, sagte Eklund draußen im Korridor, und Raimon sah kurz zu ihm auf, schien tatsächlich zu verstehen. »Außerdem ist er sehr impulsiv und unbeherrscht. Es gibt sympathischere Mitglieder der Aufgeklärten Gemeinschaft.« Er seufzte leise. »Nun, Raimon, was hältst du davon, wenn wir unsere kleine Entdeckungstour durch die Zitadelle fortsetzen?« Der Junge lächelte.
     
    In jener Nacht brachten seltsame Träume Unruhe in Eklunds Schlaf. Mehrmals sah er die Alte ohne Gesicht und fragte sich, was geschehen wäre, wenn Raimon sie berührte hätte. In einer visionären Szene senkten sich die Augen vom Himmel zu ihm herab, starrten ihn an und sahen alles in ihm, jedes noch so kleine Detail seines langen Lebens. Einmal glaubte er, die Stimme der Weltseele zu hören, aber sie blieb undeutlich, so sehr er sich auch bemühte, Worte zu verstehen.
    Er erwachte in Dunkelheit und Stille, blieb reglos liegen und lauschte. Nichts. Keine Geräusche. Kein leises Atmen in der Nähe.
    »Raimon?«
    Eklund drehte sich auf die Seite und tastete dorthin, wo er die Chemolampe wusste. Er fand sie an ihrem üblichen Platz und schaltete sie ein.
    Mattes, warmes Glühen verdrängte einen Teil der Finsternis aus Eklunds einfachem Quartier, das sich in einer kleinen Höhle tief im Innern der Zitadelle befand. Die Einrichtung war denkbar schlicht: ein Tisch und einige Stühle aus billiger Synthomasse, in einer Ecke mehrere Ablagen mit einigen persönlichen Gegenständen, daneben eine Kiste mit den Dingen, die er hier und dort fand oder die man ihm manchmal schenkte: bunte Steine, kleine Glaskugeln, in denen Farben wogten, hübsche Muscheln, versteinerte Larven von Kobaltfliegen. Dinge, die eigentlich keinen Wert hatten, die Eklund aber gern bei sich trug und mit denen er so manches Kind erfreut hatte, zuletzt Rebecca.
    Normalerweise stand nur eine Liege in Eklunds Höhle, wie der Tisch und die Stühle aus Synthomasse gefertigt, aber sie hatten am Abend eine zweite für Raimon besorgt. Und diese zweite Liege war leer.
    »Raimon?«, fragte Eklund erneut, und auch diesmal bekam er keine Antwort. Er griff nach seinem Gehstock, stand auf und verzog das Gesicht, als sich erneut der Schmerz im Rücken meldete. Er entschied sich dagegen, eine Tablette zu nehmen – alle zwei Tage, hatte Elisabeth gesagt, und er wusste ihren ärztlichen Rat durchaus zu schätzen –, hob die Chemolampe und trat in den Korridor.
    Rechts oder links? Eklund entschied sich für rechts und schritt durch einen Tunnel, der vor etwa zehn Jahren durchs Gestein des Pelion-Massivs getrieben worden war und zu den vielen Erweiterungen der Zitadelle zählte. In unregelmäßigen Abständen brannten Chemolampen an den Wänden, aber meistens blieb Eklund auf das Licht seiner eigenen Lampe angewiesen. Hier war es immer dunkel, bei Tag und Nacht, aber während der Nacht, wenn Ruhe herrschte und die meisten Angehörigen der Aufgeklärten Gemeinschaft schliefen, schien sich die Dunkelheit zu verdichten.
    Eklund wusste nicht, wie lange er unterwegs war – vielleicht zehn Minuten –, als er weiter vorn aufgeregte Stimmen hörte. Licht tanzte durch die Finsternis – jemand kam ihm entgegen. Eine junge Frau, das Gesicht blass, Entsetzen in den Augen.
    »Er ist tot«, brachte sie hervor, als sie Eklund sah. »Er ist tot!«
    Sie blieb nicht stehen, hastete weiter.
    »Wer ist tot?«, fragte Eklund erschrocken.
    »Xalon!«, rief die Schwester und verschwand hinter einer Biegung im Tunnel.
    Eklund ging schneller, auf seinen Gehstock gestützt, und versuchte, die stechenden Rückenschmerzen nicht zu beachten. Was auch immer geschehen war, es sprach sich offenbar schnell herum, denn Brüder und Schwestern eilten aus Nebenkorridoren und Seitentunneln herbei. Immer mehr Lampen kamen zusammen, und ihr Licht verbannte die Dunkelheit in ferne Ecken.
    »Er ist tot!«, ertönte es immer wieder. »Jemand hat ihn umgebracht!«
    Vor dem Zugang zu einer der größeren Wohnhöhlen hatten sich viele Leute eingefunden. Eklund bahnte sich mit vorsichtigem Nachdruck einen Weg durch das Gedränge – die meisten Brüder und Schwestern respektierten sein Alter und wichen beiseite, bevor er von den Ellenbogen Gebrauch machen musste –, und schließlich bekam er Gelegenheit, einen Blick in Xalons Höhle zu werfen.
    Überall klebte Blut.
    Auf der einen Seite lag ein Kopf, das Gesicht seltsam unversehrt. Es bot den einzigen Hinweis darauf, dass

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