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Kantaki 02 - Der Metamorph

Kantaki 02 - Der Metamorph

Titel: Kantaki 02 - Der Metamorph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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hatten und herabstarrten auf die Welt.
    Eine Gestalt saß auf dem Podest und wandte sich Raimon zu, der die Treppe hochlief.
    Eklund versuchte, noch schneller zu gehen, verwendete den Gehstock dabei wie ein drittes Bein und spürte trotz der vor Stunden eingenommenen Tablette die ersten Vorboten von Schmerz im Rücken. Wie in einem Traum setzte sich seinen Bewegungen Widerstand entgegen, als stapfe er durch hohes Wasser oder zähen Schlamm – etwas schien nicht zu wollen, dass er das Podest erreichte. Dann drehte Raimon erneut den Kopf, um nach ihm zu sehen, und ein Blick von ihm genügte, um den Widerstand verschwinden zu lassen. Ein wenig außer Atem kam Eklund die Treppe hoch, trat neben den Jungen und musterte die Gestalt auf der Sitzbank.
    Sie hatte den Körper einer uralten menschlichen Frau, aber ihr fehlte ein Gesicht. Wo sich Augen, Nase und Mund befinden sollten, sah Eklund nur leere, faltige Haut. Die Greisin saß mit krummen Schultern da, die Hände im Schoß gefaltet, gehüllt in ein blauschwarzes, fleckiges Gewand.
    Eine Frau ohne Gesicht, so wie auch die goldene Gestalt ohne Gesicht gewesen war, damals, in Eklunds Vision vor neunundsiebzig Jahren.
    Raimon sah sie an und lächelte voller Freude.
    »Wer sind Sie?«, fragte Eklund sanft, als er den Eindruck gewann, dass eine stumme Zwiesprache zwischen der Alten und dem Jungen stattfand. »Kennen Sie Raimon?«
    Die gesichtslose Frau achtete nicht auf ihn, war dem Junge zugewandt. Selbst wenn sie die Fragen gehört hatte – wie sollte sie ohne Mund antworten?
    Raimon streckte die Hand aus, und Eklund glaubte, im Gesicht der Frau eine Veränderung zu sehen oder vielleicht zu spüren. Es blieb leer, aber etwas deutete auf… Freude hin. Die Hand des Jungen kam langsam näher, und als sie nur noch wenige Zentimeter vom Kopf der Alten trennten…
    Jäher Wind fegte an den Türmen vorbei, und die Wolken zogen nicht mehr schnell über den Himmel, sondern senkten sich herab. Eklund hatte ein seltsames Gefühl – etwas in seinem Innern spannte sich jäh an und schien dann zu zerbrechen –, und von einem Augenblick zum anderen stand er wieder in der Höhle vor dem Mandala.
    Raimon zog die Hand von den drei goldgelben Kreisen zurück, die beim Kontakt mit ihm erstarrt waren. Langsam setzten sie sich erneut in Bewegung, glitten in einem hypnotischen Muster aufeinander zu und wieder auseinander.
    »Er hat das Mandala berührt«, raunte es durch die große Höhle, als sich die anwesenden Mitglieder der Aufgeklärten Gemeinschaft von ihrer Verblüffung erholten. »Der Junge hat das Mandala berührt!«
    »Wie kannst du es wagen?«, fauchte eine zornige Stimme. Ein kleiner, aber sehr kräftig gebauter Mann kam die nächste Treppe herunter. Eklund erkannte ihn: Bruder Xalon, ein Neuer Mensch, geboren auf Durant, einem Planeten mit der doppelten Schwerkraft der Erdnorm. Er packte Raimon an der Schulter und riss ihn zurück. Der Junge stöhnte leise, verlor das Gleichgewicht und fiel.
    »Vorsicht, Xalon, du tust ihm weh…«
    »Er hat hier nichts verloren!«, zischte der junge Duranti und wandte sich Eklund zu. »Es ist gut, dass der Hirte deinen Kinderhort aufgelöst hat. Kinder haben hier in der Zitadelle nichts verloren. Aber dass du es wagst, einen Jungen hierher zu bringen, zum heiligsten aller heiligen Orte…« Xalon stand dicht vor Eklund, die Fäuste geballt, vor Zorn zitternd.
    »Er hat das Mandala berührt«, sagte Eklund schlicht. »Das ist vor ihm noch nie jemandem gelungen. Und es hat auch noch nie ein Angehöriger der Aufgeklärten Gemeinschaft einen Bruder oder eine Schwester geschlagen. Möchtest du den Anfang machen, Xalon?«
    Stimmen geisterten durch die Höhle. »Er hat Recht. Kinder gehören nicht hierher…«
    »So ein Unsinn. Warum sollte es Kindern verboten sein, hierher zu kommen?«
    »Dies ist ein Ort der Meditation, der Besinnung…«
    »Kinder haben hier nichts zu suchen!«
    »Kinder sollten überall willkommen sein!«
    Und dann mehrten sich Stimmen, die flüsterten: »Er hat das Mandala berührt. Er hat es tatsächlich berührt…«
    Eklund sah, wie Raimon aufstand, und er bemerkte auch das Blitzen in den braunen Augen des Jungen. Plötzlich flackerten alle Kerzen in der großen Höhle, wie von einem Windstoß erfasst, und Schatten huschten über die Felswände.
    »Komm, Raimon«, sagte Eklund und schenkte Xalon keine Beachtung mehr. »Gehen wir.«
    Er nahm die Hand des Jungen und führte ihn vorbei an verwundert, aufgeregt, aber auch erbost

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