Kantaki 06 - Feuerträume (Graken-Trilogie 3)
Tamara geriet die Wand in Bewegung, und eine Gestalt zeichnete sich dort ab, mit vertrauten Proportionen wie der dreidimensionale Schatten eines Menschen. Das Gesicht blieb leer. Die Tal-Telassi wusste, was es damit auf sich hatte. Das Schiff – Erasmus, dieser Repräsentant der Maschinenzivilisationen – wollte ihr einen Fokus bieten, eine Richtung für Blick und Worte. Erasmus befand sich nicht dort in der Wand, sondern überall um sie herum.
»Es ist ein Name«, sagte sie schlicht.
»Ihre Biotelemetrie ist interessant. Als Meisterin der Tal-Telassi in Ihrer vierzehnten Inkarnation sollten Sie längst alles Emotionale überwunden haben, aber gewisse physische Reaktionen, die nicht Ihrer bewussten Kontrolle unterliegen, ergeben ein Muster der Ablehnung.«
»Meine Haltung ist bekannt«, erwiderte Tamara 14 kühl. »Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht.«
»Das stimmt«, erwiderte die Gestalt in der Wand. Jora hörte interessiert zu, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt; er schien mehreren Stimmen zu lauschen. Der andere Neue Mensch, ebenfalls ein Nubbio, strich mit zarten Händen über die Wände, und seine Berührungen veränderten die Konfiguration der adaptiven Siliziumpartikel. »Sie sehen falsches Leben in uns. Als ob es richtiges und falsches Leben geben könnte.«
»Ich nehme an, Sie haben mich an dieser Mission teilnehmen lassen, um mir zu beweisen, dass ich mich irre«, sagte Tamara.
»Was Sie glauben oder nicht, spielt im großen Maßstab der Dinge keine Rolle, Tamara 14«, sagte Erasmus. »Bitte verzeihen Sie mir meine Direktheit, aber es gibt Wichtigeres als Ihre persönliche Meinung.«
»Der Grakenkrieg.« Tamara fragte sich, ob Erasmus sie beleidigen und damit aus der Reserve locken wollte. Die Vorstellung erschien ihr absurd.
»Unter anderem.«
Afraim Zacharias räusperte sich. »Sie sind auf den ausdrücklichen Wunsch des Konzils der Überlebenden hier, Ehrenwerte.«
Ich bin hier, weil es der Schwesternrat so wollte , dachte Tamara. Aber sie begriff, dass Zacharias – fünfzehn Jahre lang ein erfolgreicher Kommandeur, inzwischen ein erfahrener Diplomat und geschickter Politiker und mit seinen fünfzig Standardjahren der jüngste Impro, den es im Konzil der Überlebenden jemals gegeben hatte – vermitteln wollte. Die Bedeutung seiner Worte ging weit über die ihres Inhalts hinaus. Sie wechselte einen Blick mit ihm und sah in seinen grauen Augen die wahre Botschaft: Bitte vermeiden Sie alles, was zu Spannungen mit den Maschinenzivilisationen führen könnte. Wir brauchen sie. Und Millennia braucht sie ebenfalls. Tamara war nicht ganz dieser Meinung, aber es wäre dumm gewesen, auf einer Konfrontation zu bestehen.
»Sie haben recht, Impro Zacharias. Und dafür danke ich auch Ihnen.«
Es knackte in Tamaras Ohren, als sich der Luftdruck im Innern des Schiffes veränderte, für gewöhnlich das Zeichen einer umfassenden Rekonfiguration. Jora trat zum gesichtslosen Erasmus-Avatar in der Wand und schien auf etwas zu warten.
»Ich finde es erstaunlich, dass so viele Neue Menschen Verbindung mit Ihnen suchen«, sagte Tamara nach einer Weile, während sie spürte, wie sich das Schiff veränderte.
»Und ich finde es erstaunlich, dass Sie von ›neuen‹ Menschen sprechen«, erwiderte Erasmus. »Es bedeutet, dass es auch alte gibt. Sind Sie ein alter Mensch?«
»Sie kennen mein Alter.«
»Und Sie wissen, wie meine Frage gemeint war.«
»Ich … neige zu bestimmten traditionellen Denkweisen. Es ist das Privileg wahrer Individuen: das Recht auf eine eigene, unabhängige Meinung.«
»Auch wenn sie falsch ist?«
»Menschen sind nicht perfekt. Sie lernen. Ich bin fast eintausendachthundert Jahre alt und lerne noch immer. Klar abgegrenztes Richtig und Falsch gibt es vielleicht nur in der Mathematik.«
»Nein«, widersprach Erasmus. »Nicht einmal dort. Richtig und Falsch hängen oft vom Blickwinkel ab. Die Quantenmechanik bietet gute Beispiele dafür. Und obwohl Richtig und Falsch nicht absolut sind, sondern relativ, abhängig von Kontext und kulturellen Perspektiven, halten Sie uns für ›falsches Leben‹, Tamara 14.«
»Sie werfen keinen Schatten im Tal-Telas.« Zacharias warf ihr einen mahnenden Blick zu, und sie beruhigte ihn mit einem kurzen Nicken.
»Das genügt Ihnen für eine solche Kategorisierung? Ein fehlender Schatten? Und deshalb sind wir, die Nachkommen der Megatrone, denen bereits in den alten Allianzen Freier Welten Personenstatus zuerkannt wurde, kein richtiges Leben für
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