Kapitän Singleton
Ausgestoßenen, Diebe, Kurtisanen und Seeräuber wie Oberst Jack, Moll Flanders, Roxana und Bob Singleton streben letztlich nichts anderes als eine solche gesicherte und, wenn es sich 364
einrichten läßt, respektable Existenz an. Sie ringen darum, sich die Grundlagen eines bürgerlichen Daseins zu schaffen, auch wenn sie sich zeitweilig ganz den Abenteuern widmen und darüber dieses Ziel vergessen. Es wäre deshalb falsch, ausschließlich auf die Abenteuer, das liederliche Leben und die von diesen Helden verübten Gemeinheiten zu schauen und ihre Gewissensbisse, Reuebekundungen und Besserungsgelöbnisse nur als angehängte Moral zu betrachten, die das Vergnügen, Schmutz, Sünde und Verbrechen abzubilden, rechtfertigen soll: Dieses Gewissen ist die geistige Form ihrer Bürgerlichkeit.
Außerhalb Europas war Defoe nicht gereist. Für Episoden und Einzelheiten des Romans „Kapitän Singleton“ sind Quellen ermittelt worden, wobei in erster Linie auch jene Bücher als Vorbilder in Betracht kommen, die der Autor nachweislich für den „Robinson Crusoe“ benutzte, der ein Jahr zuvor entstanden war. Dazu gehören die von dem Geistlichen und Diplomaten Richard Hakluyt (1552? bis 1616) und dessen einstigem Helfer, dem Pfarrer Samuel Purchas (1575? – 1626), herausgegebenen Sammelbände von Reiseberichten; ferner
„Eine neue Reise um die Welt“ (4 Bände, 1697 – 1709) von dem Kapitän (und Seeräuber) William Dampier, den Defoe persönlich kannte; von Maximilien Mission die fiktive „Reise des Francois Leguat“ (1691) und John Ogilby, „Afrika“ (1670).
Hinzu kamen J. Albert de Mandelslo, „See- und Landreisen“
(1662) und A. O. Exquemelin, „Die Freibeuter Amerikas“
(1684/85).
Unser Roman weist aber auch zahlreiche Bezüge zu eigenen Werken Defoes auf. Auch Robinson war in Afrika und tötete dort einen Leoparden, und als er sich in Bengalen aufhielt, wollte er die Route nach England einschlagen, die Singleton tatsächlich nimmt: durch den Persischen Golf, per Karawane über Basra, Bagdad, Aleppo zum Mittelmeer. Mehr Gebrauch machte Defoe von seiner im Dezember 1719 veröffentlichten Schrift „Der König der Piraten, enthaltend einen Bericht der 365
berühmten Unternehmungen Kapitän Averys, des Schattenkö-
nigs von Madagaskar“, die kaum an eine vermutlich von Adrian Van Broeck 1709 veröffentlichte Biographie des sagenhaft reichen Piraten anschloß. Defoe kaschierte die Tatsache, daß er nun dem Singleton die Abenteuer und Reichtümer Averys zuschrieb, indem er in „Kapitän Singleton“
Kapitän Avery als Nebenfigur auftreten ließ.
Aus all diesen übernommenen Details und aus den Überlegungen, die er auch in seinen Traktaten sozialer Thematik behandelte, wäre kein Roman geworden, hätte Defoe die erfundene Lebensgeschichte nicht dem Plan unterworfen, den resoluten Abenteurer in unbekannter Natur und feindlicher Umwelt sein Glück machen zu lassen, und hätte er dafür nicht den angemessenen, einheitlichen Ton gefunden. Es ist die Erzählweise eines genau beobachtenden, die Umstände abwägenden, an der Erklärung der Welt interessierten Bürgers seiner Zeit. Ihm erschließt sich die Wirklichkeit über die Sinne und die Vernunft. Die Hauptgestalten läßt er durch Erfahrungen lernen, nach dem einfachen Prinzip von Ursache und Wirkung. Sensationen und Ungeheuerlichkeiten, phantastische Erlebnisse, Gefühlsausbrüche und das Aufbauschen des Nichtalltäglichen haben darin keinen Platz; der einzige Orkan, der Singletons Schiff auf den ausgedehnten Reisen bedroht, wird nur als ein hinderliches Ereignis erwähnt und nicht in seinen Schrecken ausgemalt. Selbst der unvorstellbare Reic htum des Seeräubers, der an den des legendär gewordenen Kapitän Kidd erinnert, wird vorstellbar und meßbar, in Pfund Sterling, in Gewicht an Gold oder Gewürzen, in Ballen von Tuchen und Seiden, in Perlen und Edelsteinen.
Nun ist der Seeräuber Bob Singleton aber nicht als böser Mensch nach der abstrakten Tugendlehre einfach gegeben.
Eingangs hören wir, daß er als Waise weder eine Schulbildung noch irgendeine Erziehung genoß. Herumgestoßen und verkauft wird er, niemand will ihn haben, denn nach den 366
geltenden Niederlassungsgesetzen fielen Waisen den Gemeinden zur Last, die sie demzufolge loswerden wollten. In die Hände der Portugiesen gefallen, durchläuft er eine Schule des Verbrechens. Er bestiehlt den Kapitän, betrügt die Matrosen, so wie sein Herr, der Steuermann, ihn ausnutzt und
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