Karaoke
keine Rolle, Hauptsache, es kracht.
Es gibt Volltreffer-DJs - sie setzen auf Songs, die alle kennen und aus dem Stand nachpfeifen können, die gut zum Tanzen geeignet sind, aber allen, einschließlich dem DJ selbst, total auf den Wecker gehen. Die anderen, die so genannten Loser-DJs, stehen auf musikalische Werke, die ein Stückchen daneben liegen, von einem Volltreffer aus gesehen. Dabei machen sie aber mit aller Kraft deutlich, dass dieses Schräge gerade geplant ist, weil Mainstream unsäglich ist und sie schon immer scharf darauf waren, etwas daneben zu liegen. Dann gibt es noch Revoluzzer-DJs, die echte Revoluzzer-Songs allen anderen vorziehen. Diese Songs sind verdammt gut, sehr anstrengend zum Anhören und überhaupt nicht tanzbar. Es kümmert aber die Revoluzzer-DJs nicht, wie sie beim Publikum ankommen und ob ihre Musik tanzbar oder nicht tanzbar ist. Es geht ihnen um nichts weniger als um die Revolution. Bei
unserer Russendisko mischen wir alles durcheinander, Hauptsache, es heizt an: ein Volltreffer, zwei Loser, ein revolutionäres Lied und noch einmal das Ganze von vorn. Man hat nie mehr als drei Minuten Zeit, um darüber nachzudenken, was als Nächstes kommt - und alles, was man zu Hause vorbereitet hat, taugt nichts.
Dieses Handbuch ist an den vielen Party-Abenden entstanden, in den Nächten, die ich hinter dem DJ-Pult verbracht habe. Manche Seiten entstanden im Keller des Kaffee Burger, zwischen Bierkisten und Weinkartons, wenn ich mir während der Disko eine Pause gönnte. Deswegen hat dieser Text keinen Anfang und kein richtiges Ende, man weiß nie, was als Nächstes kommt. Dafür wird in diesem Buch viel gesungen, getanzt und rumgemeckert, weil DJs ja eigentlich unglaubliche Nörgler sind. Wenn sie alle - die Volltreffer, die Loser, die Revoluzzer - irgendwann vor ihrem Musikgott stehen, jeder vor seinem eigenen natürlich, wird er sie sicher nicht fragen, welche Musikrichtung sie bevorzugten und welche Bands ihrer Meinung nach die besten seien. Nein, das wird er nicht. »Wie war die Stimmung?«, wird der Musikgott fragen. »Habt ihr da unten richtig auf den Putz gehauen? Habt ihr alles weitergegeben, was euch gegeben wurde, und hat es euch Spaß gemacht?«
»Ja! Ja!«, werden die Volltreffer, die Loser und die Revoluzzer rufen.
»Dann ist es gut«, wird der Musikgott sagen. »Packt schnell eure besten Platten zusammen, und welcome to Level II.«
Er wird sie alle lieben. Denn Gott ist auch ein DJ.
Schlechte Vorbilder
Unsere erste Russendisko im Frühling, die unter dem Motto »Tanz in den Mai ohne Polizei« stattfand, verlief wie immer. Eine Reisegruppe aus Spanien zog sich vor der Bühne aus und versuchte dabei, alles, was sie brauchten, an den Unterhosen zu befestigen - Fotoapparate, Zigaretten, Biergläser. Die halb nackten Frauen badeten in Jägermeister. Kurz nach Mitternacht kam noch eine Touristengruppe aus Sachsen, sie wollte die Reisegruppe aus Spanien näher kennen lernen. Die Spanier mieden jedoch jeden direkten Kontakt mit anderen Reisegruppen; sie traten den Rückzug an, wobei sie unterwegs ihre Fotoapparate, Zigaretten und Biergläser verloren. Die Sachsen liefen ihnen in Richtung Toilette hinterher. Einer kam nach zwanzig Minuten zurück. »Alle knutschen schon, nur ich nicht!«, berichtete er frustriert.
»Nicht aufgeben!«, ermutigten wir ihn. »Die Nacht ist jung, du findest bestimmt noch dein Glück!«
Danach kam ein Journalist aus Hamburg, der DJ Jurij und mich zum Thema HipHop interviewen wollte.
»Unsere HipHop-Zeitschrift sucht gerade prominente Personen, die von HipHop keine Ahnung haben, um sie zu dieser Musik zu befragen«, erklärte er uns. »Letzte Woche waren wir bei Reich-Ranicki, heute wollen wir mit euch sprechen.«
»Gut«, sagten wir und setzten uns in eine Ecke, wo es nicht ganz so laut war. Der Journalist stellte uns einen jungen Rapper vor, der gerade in Deutschland bei vielen vierzehnjährigen HipHop-Fans eine große Nummer sein sollte. In der Russendisko, die eher von Vierzigjährigen, na ja, gut, von Dreißigjährigen besucht wird, konnte sich der Sänger unauffällig entspannen.
»Früher«, erzählte der Rapper, »habe ich hauptsächlich abstoßende >Lutsch-meinen-Schwanz<-Texte geschrieben. Sie kamen bei den Jugendlichen sehr gut an. Doch dann merkte ich, dass viele ein falsches
Bild von mir hatten. Einige kamen zu mir hinter die Bühne und sagten: >Na, du Ficker!< Da erkannte ich, welche Verantwortung ich habe, und beschloss, auch
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