Karaoke
wo warst du zwischen dem Abend des Jahres 1999 und dem frühen Vormittag 2005?«, werde ich antworten: Kinder, ich war DJ bei der Russendisko. Ich würde euch gerne Fotos aus dieser Zeit zeigen, leider sind die meisten unscharf und unterbelichtet, es war dort immer sehr dunkel. Ich könnte euch ein paar Lieder aus unserem damaligen Programm vorsingen, ihr werdet sie garantiert nicht erkennen, weil ich nicht singen kann. Glaubt mir einfach: Es war eine schöne Zeit. Ich habe viele Nächte in schummrigen Räumen verbracht, unter Sauerstoffmangel und vorübergehender Taubheit gelitten. Trotzdem kann ich den Job nur weiterempfehlen. Es ist nicht sonderlich anstrengend, ein guter DJ zu sein. Man braucht nur einen Treffer zu landen - ein Lied aufzulegen, das die meisten Gäste als tanzbar empfinden. Die nächsten Titel müssen dann in etwa den gleichen Rhythmus haben und sich stilistisch aneinander reihen. Eine gute Tanzstimmung will gepflegt sein, die Gäste sollten am Anfang nicht verwirrt werden, damit sie glauben, sie wären in einer ganz normalen Disko. Wenn sie sich da sicher sind, kannst du als DJ machen, was du willst. Zum Beispiel gleich nach einer Liebesschnulze einen Heavy-Metal-Song auflegen und dazu ins Mikrofon schreien: >Come on everybody! Jetzt geht's los! Dawaj, dawaj!<, dann aber sofort Reggae, Salsa und Punkrock hintereinander spielen,
richtig auf die Sülze hauen, damit sich alle die Beine verdrehen. So macht das Tanzen wirklich Spaß.
Für die meisten DJs ist es egal, welche Art von Musik sie auflegen. Die meisten spielen nur die aktuelle Hitparade ab, deswegen arbeiten sie oft hinter einem gepanzerten Glasschild, damit das Publikum sie nicht ansprechen, sich beschweren oder sie verdreschen kann. Das haben wir nie gemacht, wir waren immer für unser Publikum ansprechbar, egal, in welchem Betrunkenheitsgrad wir oder die Leute gerade waren. Sie kamen im Minutentakt zu uns, um ihre Freude mitzuteilen oder uns zu beschimpfen, ihre Sorgen loszuwerden oder klarzustellen, dass sie noch viel bessere DJs waren als wir. »Klar«, nickten wir, »jeder ist ein DJ mit seiner eigenen Musik im Kopf.« Nur findet nicht jeder gleich einen passenden Raum, um seine DJ-Qualitäten einem breiten Publikum zu präsentieren. In allen Clubs sitzen bereits irgendwelche Plattenaufleger hinter dem Panzerglas.
Auch wir haben erst 1999 eine Heimat für unsere Russendisko gefunden. Damals beschlossen ein UPS-Brigadier, ein DEFA-Dokufilmer und ein Anarcho-Dichter, gemeinsam eine Gaststätte in Berlin-Mitte zu betreiben. Der Laden gehörte einer alten Dame, Frau Burger, und hieß dementsprechend Kaffee Burger, mit Doppel-f und Doppel-e, weil der Schmied, der einst das Namensschild angefertigt hatte, betrunken gewesen war. In der DDR hatte diese Gaststätte trotz des unglücklichen Schildes einen guten Ruf - in der Boheme. Generationen von Lebenskünstlern, Schauspielern und Todesphilosophen versoffen dort ihre Tantiemen und Talente. Nach der Wende wurde es um den Laden immer stiller, also konnten der UPS-Brigadier, der Dokumentarfilmer und der Anarcho-Dichter das »Kaffee« zum Schnäppchenpreis ergattern. Doch obwohl die geforderte Summe sehr bescheiden war, hatten die angehenden Kneipiers nicht ausreichend Geld auf dem Konto und wollten deswegen einen alten Bekannten, einen ausrangierten StasiOffizier, der mit den dreien vor der Wende dienstlich zu tun gehabt hatte, mit ins Boot nehmen. Der Offizier guckte sich den Laden an, fand aber das Risiko zu groß. »Wer interessiert sich denn noch für den alten DDR-Kram«, argumentierte er.
Die letzten zehn Jahre vor der Übernahme war das Kaffee Burger fast ganz ohne Kundschaft über die Runden gekommen. Die Originaltapete
von 1981 in warmen Brauntönen schmückte noch immer die Wände. Und an der Decke hing noch das Lametta von einem Achtzigerjahre- Weihnachtsfest sowie die alte DDR-Preistafel mit sozialistischen Sonderangeboten: »1 Korn und 1 Pils 89 Pfennig«, weil die Besitzerin zu alt war, um auf die Leiter zu steigen und das Schild abzuhängen. Der Dichter rief mich damals an, zeigte mir den Laden und fragte, ob ich mir vorstellen könne, in diesem historisch gesättigten Ambiente die vielfältige osteuropäische Kultur zu präsentieren. Die muffelige Atmosphäre würde hervorragend dazu passen. Ich sagte Ja.
Die Enthusiasten hatten sich inzwischen das nötige Geld zusammengeborgt und übernahmen die Kneipe. Ich nannte meine osteuropäische Veranstaltungsreihe konzeptuell
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