Karaoke
demoliert, Museumssäle verwüstet und zahlreiche Clubbetreiber ruiniert. Selbst wenn unsere Friedensmission zur dauerhaften Völkerverständigung nicht immer ankam, selbst wenn der eine oder andere Besucher mit einem blauen Auge die Tanzfläche verließ (einmal auch der DJ selbst), haben wir es geschafft, die fremdartige Russenmusik bis in die letzten Winkel der Bundesrepublik zu tragen. Ein wenig Unordnung muss sein!
Seitdem sind wir jedes Jahr unterwegs. Unsere Routen sind oft denen der Zugvögel entgegengesetzt. Im Winter wandern wir mit der Russendisko in den Norden, damit die Menschen dort nicht ganz einschlafen. Wenn der Frühling kommt, machen wir uns in die andere Richtung auf den Weg. Ende April 2004 verbrachten wir daher im Süden, dort, wo die Würste am besten schmecken und die Menschen Gott grüßen - in Nürnberg. Die Stadt bereitete sich gerade mit großer Hingabe auf ihre Veranstaltungen »Heraus zum revolutionären 1. Mai« vor. Sogar in unserem Hotel Deutscher Kaiser lagen die revolutionären Flyer in der Lobby aus. Unter dem Motto »Alles für alle! Gegen Ausbeutung! Für die soziale Revolution!« wurden mehrere Kulturprojekte angekündigt: ein Dokumentarfilm über die Besetzung und proletarische Selbstverwaltung einer Keramikfabrik in Argentinien, eine Diskussion zur bolivianischen Revolution in Venezuela, außerdem eine Diskussionsreihe zum Thema »Die BRD als kleiner Bruder des amerikanischen Imperialismus«.
Unsere Russendisko wirkte vor diesem Hintergrund harmlos. In einem denkmalgeschützten Gebäude legten wir fröhlichen russischen Punkrock auf und ließen dazu alte sowjetische Zeichentrickfilme über die Leinwand laufen. Das Publikum zeigte sich überhaupt nicht politisch engagiert, dafür aber sehr konsumorientiert. Alles wollten sie uns abkaufen, unsere Musik, unsere Klamotten, aber den größten Zuspruch bekam unerwarteterweise eine Videokassette mit sowjetischen Zeichentrickfilmen, die ich mir extra für diese Mugge bei meinen Kindern ausgeliehen hatte.
»Ich finde ja dieses schwarze Schweinchen so geil«, rief eine Diskobesucherin mir zu. »Wo kann ich den Film kaufen?«
»Das ist kein schwarzes Schweinchen«, rief ich zurück. »Das ist der russische Winnie Pu!«
»Ach, wirklich?« Die Frau hielt das für einen Witz. »Ich möchte ihn trotzdem kaufen!«
Ein junger Mann tippte mir auf die Schulter: »Ich kenne diesen Film, das ist doch das kommunistische Schneewittchen!«
»Das ist kein kommunistisches Schneewittchen, das ist der russische Winnie Pu«, erklärte ich ihm geduldig. Mir war völlig unbegreiflich, wie die Menschen den Bären einfach nicht erkennen wollten. Vielleicht wollten sie mich nur damit provozieren? Es hörte einfach nicht auf. Eine andere Frau kam auf die Bühne. »Ich war vor zwanzig Jahren in St. Petersburg«, verkündete sie fröhlich. »Ich kann mich noch gut an diesen Film erinnern. Wie hieß dieses lustige Pferdchen noch mal?«
»Das ist der russische Winnie Pu!«, schrie ich zum hundertsten Mal. »Und dieses Rosige mit Ohren ist sein Freund Ferkel, und da ist der Esel und hier die Eule!«
»Die Eule?«, ließen die Nürnberger nicht locker. »Wo denn? Ach, diese Riesenschnecke? Toll!«
Wurde dieser Film vor oder nach Tschernobyl gedreht? Das Sein bestimmt doch das Bewusstsein, überlegte ich. Die Menschen im Westen haben die gleichen Augen, aber die Bilder in ihren Köpfen sind anders als bei den Nachbarn im Osten. Deswegen sehen sie hier einen ganz anderen Film - einen über das Leben von Mutanten statt eines Kin
dermärchens. Genauso habe ich auch den westlichen Winnie Pu nicht erkannt. Dieses kleine gelbe Wesen mit der piepsigen Stimme sah für mich wie eine überernährte, genetisch manipulierte Maus aus. In Nürnberg sind wir dennoch als Freunde auseinander gegangen, jeder mit seinem eigenen Winnie Pu im Kopf. Ich habe die Videokassette mit dem unseren nicht verkauft, sonst hätten mich die Kinder wahrscheinlich gelyncht. Trotzdem wünschte ich mir, dass anlässlich des ersten Mai alle Winnie Pus der Welt sich solidarisieren und verbrüdern würden. Es ist nicht auszuschließen, in dieser immer kleiner werdenden Welt, dass der Ost- und der West-Winnie-Pu sich irgendwann auf irgendeiner Leinwand begegnen. Das wäre ein Knaller! Sie werden einander zuerst garantiert nicht erkennen. Der hiesige ist so niedlich, glatt und gut erzogen, ein Winnie Pu aus ökologischem Anbau quasi. Unserer dagegen ist groß, dunkel und muffelig. Er hat einen
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