Karaoke
lernte der Rächer, Motorrad ohne Hände zu fahren und seine Feinde, eine miese Bande, mit bloßen Füßen zu erledigen. Mit seinem Kopf konnte der Rächer nicht nur singen, sondern auch Türen einschlagen und Fenster zerbrechen. Das konnten wir bald auch. Mit diesem Anton zündete ich Autos auf dem Parkplatz an, wir betranken uns mit Schnaps und saßen nachts im Winter hinter dem Haus im Park, der aus zweieinhalb Bäumen bestand. Wir spielten Gitarre und sangen vom Liebeskummer geplagt trostlose russische und englische Lieder:
Wir sind wie Fische in einem Glas, Die einander ständig umkreisen, Wir sehen immer dasselbe, Überall tote Bäume. Ich wünschte, du wärst hier.
Wishyou were here? Wer sollte das sein? Was für tote Bäume? Das war doch pure Pubertät. Ein Vierteljahrhundert ist seitdem vergangen. Trotzdem schickte ich ihm meine Nummer, und er rief mich noch in derselben Nacht an. »Na du, Schriftsteller, was? Haha, hoho, was schreibst du denn so? Bestimmt irgendwelche Schweinereien über Gruppensex in der Sowjetunion, haha, hoho!« Anton selbst hatte, wie alle anderen Schulkameraden auch, inzwischen große Karriere gemacht, sich zu einem umtriebigen Geschäftsmann entwickelt und war Millionär geworden. »Im September werde ich in Berlin sein, dann gehen wir richtig saufen, wie in den alten Zeiten«, drohte er.
Zwei Monate später rief er wieder in der Nacht an, aus einem Hotel am Gendarmenmarkt.
»Komm um neunzehn Uhr zum Denkmal der dicken Frau, ich werde dort auf dich warten«, sagte er.
»Was denn für eine dicke Frau?« Ich verstand ihn nicht.
»Hier auf dem Platz steht eine dicke Frau in so ein Tuch gewickelt«, behauptete er.
»Das ist keine dicke Frau, das ist Schiller, ein großer deutscher Dichter und Denker«, klärte ich ihn auf.
»Sieht aber wie eine alte Frau aus«, meinte er.
Ich kam etwas verspätet zum Denkmal. Auf Schillers Kopf saß ein einsamer Vogel, unten auf dem Sockel saß Anton mit einer Bierflasche in der Hand. Er hatte sich seit der Schulzeit überhaupt nicht verändert, nur eine Glatze und ein Bauch waren dazugekommen. Wir umarmten uns.
»Ich sitze seit einer halben Stunde hier und höre die Tauben singen.« Anton zeigte mit dem Finger auf den Vogel, der auf Schillers Kopf saß.
»Erzähl keinen Quatsch«, sagte ich, »Tauben können nicht singen, sie gurren nur.«
»Nein, glaub mir, der Vogel singt.«
»Wovon sollen diese grauen, fetten Vögel denn singen?«, fragte ich.
»Von der Liebe«, sagte Anton und drehte sich zu mir. »Alle singen von der Liebe. Das Aussehen ist egal, genau wie bei Menschen, die auch immer das Gleiche singen. Lalala pipapo, warum hast du mich verlassen. Oder sind die deutschen Tauben anders?«
Wir gingen zum Taxistand.
»Wohin?«, fragte der Fahrer.
»Schönhauser Allee«, sagte ich, »und drehen Sie die Musik bitte etwas lauter.«
Der Taxifahrer lenkte mit einer Hand, mit der anderen drehte er die Skala rauf und runter auf der Suche nach passender Musik. Oldies, Rapper, piepsige Mädchenstimmen und heitere Hardrocker tönten nacheinander aus den Boxen. Die Welt stöhnte in allen Sprachen, die Welt versank in Liebeskummer, flüsterte, jauchzte und schrie: »Papara- pa, lala, Gabi wartet im Garten, ich liebe dich, ich liebe dich nicht!« Das Radio spuckte immer neue Portionen davon aus: »Du bist alles, was ich habe auf der Welt, du hast es immer so eilig und nie Zeit, deine Spuren im Sand, die ich gestern noch fand.« Zwischendurch gab es Werbung, und dann ging es sofort weiter.
»Geile Tracks, geile Tracks«, lachte Anton. Die ganze Welt sehne sich nach der großen Liebe, es gäbe nie ein anderes Thema. Und wir wären
auch dieselben geblieben, noch immer wie Fische in einem Glas, und draußen immer das gleiche Bild — überall tote Bäume.
Ich wünschte mir, der Taxifahrer würde es schaffen, das beste, das einzig wahre Liebeslied aus diesem Radiosumpf herauszufischen, das uns endgültig aufklärte. Wir würden aufhören herumzuzappeln, würden endlich weise und glücklich. Plötzlich wurde es still im Wagen, und wie aus dem Nichts sagte eine tiefe männliche Stimme: »Guten Abend. Sie hören Deutschland-Radio Berlin. Das Thema unseres Kulturreports heute lautet: >Der lange Schatten der Stask«
Anton und ich kehrten erst in eine Kneipe ein und dann in noch eine, beobachteten tanzende Menschen und lernten einen deutschen Schäferhund kennen, der an unseren Tisch kam. Ich erzählte ihm von Backi und von der Russendisko, von meiner
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