Karaoke
Snickers, die nicht »in Sekundenschnelle im Mund zergingen«, sondern für mehrere Tage dort blieben. Man konnte sie weder schlucken noch herauskratzen. Keine nationale Küche der Welt kann solchen Hokuspokus nachmachen.
Durch die Auflösung ist die Sowjetunion mobil geworden und hat sich über die ganze Welt verstreut. Sie lebt weiter im Herzen ihrer ehemaligen Bürger und wird dort bleiben, bis der Letzte, der von sich behaupten kann Born in the UdSSR, den Löffel abgibt.
Neulich in Chicago, Dewan Ecke California Street, sahen wir in einem russischen Lebensmittelladen namens »Drei Schwestern« ein Plakat: »Zwei Büchsen Sprotten für einen Dollar, nur für Kriegsveteranen nach Vorlage des Ausweises«. Ein sehr alter, einarmiger Mann stand im Laden. »Zeigen Sie mir Ihren Ausweis!«, rief die Verkäuferin hinter der Theke. »Woher soll ich wissen, dass Sie ein echter Kriegsveteran sind? Vielleicht haben Sie die ganze Zeit hinterm Ural gesessen! Vielleicht haben Sie Ihre Hand sonst wohin gesteckt!«
Da wurde wieder ein Stück meiner alten Heimat sichtbar. Auch der Mann auf dem Männerklo im Russischen Haus in Berlin, der immer erst dann die Hose zumacht, wenn er den Toilettenraum längst verlassen hat, ist meine Heimat. Vor allem aber das Lied »Meine Adresse ist Sowjetunion«, das so oft von so vielen sowjetischen Ensembles im Radio und Fernsehen zwischen den Parteitagen gespielt wurde, dass jedem von uns beim Anhören sofort die Pockennarbe rot anlief. Viele würden an dieser Stelle klagen: Aber diese Sowjetunion war doch der Knast der Völker und der Freiheit! Andere werden sagen: Na und? Welcher Staat ist das nicht! Ich sage: Seine Heimat kann man sich nicht aussuchen. Und oft, wenn ein Sowjetbürger einen anderen Sowjetbürger trifft, egal, ob in Chicago oder in Berlin, dann kaufen sie sich eine Flasche Moskowskaja und ein halbes Kilo Konfekt Roter Oktober, und wenn beides leer ist, erinnern sie sich an das alte Lied:
Die Mädels sind dort immer selbstbewusst, Die Jungs sind dort immer gescheit, Und wenn in der Zeitung Vorwärts was steht, Dann wissen alle sofort Bescheid.
Mein Herz bricht heraus
Aus meeeeeiner Brust,
Meine Adresse ist kein Land und kein Haus,
Meine Adresse ist Sowjetskij Sojus!
Meine Adresse ist kein Land und kein Haus.
Regelmäßig werde ich in Berlin von meinen Landsleuten, den Kosmonauten aus meiner Jugend, besucht. Neulich klingelte in der Nacht das Telefon.
»Hallo!«, sagte eine tiefe männliche Stimme. »Hier spricht die Polizei, ergeben Sie sich! Hahaha! Erkennst du mich noch?« Mein alter Freund mit dem Spitznamen »Backstein« lachte fröhlich in den Hörer. Er sei gerade in Berlin, akkreditiert beim Kongress »Kinderärzte gegen den
Frieden« oder so ähnlich, und wir müssten uns unbedingt treffen, augenblicklich, weil er schon morgen zurück nach Moskau fliege.
Ich erkannte Backis Stimme sofort. Immer wieder tauchen bei mir Leute aus der Vergangenheit auf. Sie rufen nachts an, sagen, dass sie zufällig gerade in Berlin seien, und klopfen mir dann auf die Schulter, als hätten wir uns nicht das letzte Mal vor fünfzehn Jahren in Moskau gesehen, sondern gestern an der Ecke. Wir trinken zusammen auf die alten Zeiten, dann tauchen sie für weitere fünfzehn Jahre unter. Insofern überraschte mich das plötzliche Erscheinen meines alten Freundes Backstein nicht sonderlich. Die Tatsache, dass Backi inzwischen Kinderarzt geworden war, wunderte mich jedoch sehr. Damals, vor fünfzehn Jahren, wollte er Förster werden. Er studierte zu diesem Zweck an der Waldtechnischen Akademie, Sägewerk genannt, und hatte vor, ein langes gesundes Leben in der Taiga zu führen, im Einklang mit der Natur, mit einem Eichhörnchen auf der Schulter und freundlichen Hasen drumherum. Den Weg vom Förster zum Kinderarzt stellte ich mir sehr verwickelt vor.
Wir trafen uns am Hackeschen Markt. Im Wald habe er es nur zwei Monate ausgehalten, erzählte Backi. Danach sei er in die Stadt zurückgegangen und habe als Gerichtsvollzieher, als Wachmann auf einem privaten Parkplatz, als Schauspieler und Stuntman in einem russischen Action-Film, als Rolltreppenmechaniker und sogar als Fahrkartenkontrolleur gearbeitet. Er habe aber dann verstanden, worauf es im Leben ankomme, behauptete Backi. Es sei völlig unwichtig, was man mache und wo man lebe.
»Du brauchst weder Wald noch Feld, um glücklich zu sein, sondern die richtige Lebenseinstellung«, philosophierte Backi.
»Aber wieso dann Kinderarzt?«,
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