Karibische Affaire
etwas mehr über den Major selbst herausfinden. Aber würde ihr das helfen? Kaum! War Major Palgrave tatsächlich ermordet worden, so bestimmt nicht wegen irgendwelcher Geheimnisse in seinem Leben. Auch nicht, damit jemand ihn beerben oder sich an ihm rächen könne. Nein, dies war tatsächlich einer der seltenen Fälle, in denen eine genauere Kenntnis des Opfers nichts half. Der einzige Punkt von Bedeutung war, wie sie glaubte, der Umstand, dass der Major zu viel geredet hatte!
Sie hatte von Dr. Graham eine wirklich interessante Tatsache erfahren. Der Major hatte in seiner Brieftasche mehrere Fotos gehabt: eines von ihm selbst mit einem Polopony, eines mit einem toten Tiger und noch ein paar Aufnahmen ähnlicher Art. Warum wohl hatte Major Palgrave gerade diese Fotos bei sich getragen? Offenbar, so dachte Miss Marple auf Grund ihrer langen Erfahrung mit alten Admiralen, Brigadegenerälen und einfachen Majoren, weil er den Leuten immer wieder ganz bestimmte Geschichten erzählt hatte! Er fing an mit »Einmal, als ich in Indien auf Tigerjagd war, geschah etwas Merkwürdiges…« Oder er gab eine Erinnerung an ein Polopony zum besten. Und ebenso würde er seine Geschichte über einen mutmaßlichen Mörder im gegebenen Moment unfehlbar durch das betreffende Foto aus seiner Brieftasche illustriert haben.
Auch bei seinem letzten Gespräch mit ihr war er nach diesem Schema verfahren. Kaum war die Rede auf das Verbrechen des Mordes gekommen, hatte er auch schon, um das Interesse zu wecken, das getan, was er zweifellos immer getan hatte, nämlich sein Foto hervorgezogen und einen Kommentar dazu gegeben: »Würden Sie glauben, dass das ein Mörder ist?«
Der Angelpunkt war das Gewohnheitsmäßige daran. Diese Mördergeschichte musste zu des Majors regelmäßigem Repertoire gehört haben. Sobald das Wort »Mord« fiel, kam er auf Touren.
Also, überlegte Miss Marple weiter, musste er diese Geschichte schon jemand anderem erzählt haben. Oder sogar mehreren. War das der Fall, dann konnte sie vielleicht von den Betreffenden die weiteren Einzelheiten erfahren. Ja, vielleicht sogar, wie der Mann auf dem Foto aussah!
Befriedigt nickte sie. Das war ein Anfang! Vor allem kamen die Leute in Betracht, die sie als die »vier Verdächtigen« bezeichnete. Eigentlich waren es nur zwei, da Major Palgrave von einem Mann gesprochen hatte: Oberst Hillingdon und Mr Dyson. Sie sahen zwar keineswegs wie Mörder aus, aber wer sah schon so aus! Konnte es ein Dritter sein? Als sie den Kopf gedreht hatte, war niemand zu sehen gewesen. Nur Mr Rafiels Bungalow. Konnte jemand aus diesem Bungalow gekommen und wieder darin verschwunden sein, noch ehe sie Zeit gefunden hatte, sich umzublicken? Wenn ja, dann konnte das nur der Diener gewesen sein. Wie hieß er gleich? Ach ja, Jackson. Konnte er es gewesen sein? Dann wäre es die gleiche Pose gewesen wie auf dem Foto: ein Mann, der aus der Tür trat. Diese Gleichheit konnte der Major, der bis dahin den Kammerdiener Arthur Jackson kaum beachtet haben mochte, tief beeindruckt haben! Angenommen, Jackson war vorher für ihn ein Nichts gewesen – und dann hatte der Major dieses Foto in der Hand und über Miss Marples rechte Schulter hinweg plötzlich die lebensgetreue Szene vor Augen gehabt?… Miss Marple wälzte sich herum. Das Programm für morgen – oder vielmehr für heute – stand fest: Es galt, Näheres über die Hillingdons, die Dysons und über Arthur Jackson, den Diener, zu erfahren.
Auch Dr. Graham erwachte zeitig am Morgen. Sonst pflegte er sich in diesem Fall umzudrehen und weiterzuschlafen. Heute aber ließ ihn eine merkwürdige Unruhe keinen Schlaf mehr finden. Er fragte sich nach dem Grund dieser Unruhe, konnte aber keine Antwort finden. So lag er und dachte darüber nach. Es hatte etwas zu tun – etwas zu tun – ja, mit Major Palgrave. War es dessen Tod? Was hätte ihn daran beunruhigen sollen? War es etwas, was die schwatzhafte alte Dame gesagt hatte? Das Missgeschick mit dem Foto hatte sie recht gut hingenommen. Aber was war es nur, das sie gesagt hatte, welches Stichwort von ihr hatte seine Unruhe ausgelöst? Schließlich war am Tode des Majors nichts Verdächtiges. Gar nichts. Zumindest glaubte Dr. Graham, dass es da nichts Verdächtiges gebe. Bei dem Gesundheitszustand des Majors war es doch klar – ja, was war eigentlich klar? Was wusste er schon von Major Palgraves Gesundheitszustand? Jedermann redete nur von dem hohen Blutdruck des Majors. Aber Dr. Graham selbst hatte niemals
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