Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
seinen Job verliert.«
Zeigte ein Bulle das leiseste Anzeichen von Schwäche, stand für ihn viel auf dem Spiel: Arbeitsplatz, Pension, Ruf. Als ich noch Polizistin war und einen Zusammenbruch erlitt, taten die Kollegen zwar nett, gingen jedoch auf Distanz, als handelte es sich bei meinem Versagen um eine ansteckende Krankheit, vor der sie sich fürchteten.
»Wie lange geht das schon so?«
»Keine Ahnung. Er hat mich vor ein paar Wochen eingeweiht und vorgeschlagen, mir die Adresse zu simsen, wenn er merkt, dass es wieder losgeht. Wir haben vereinbart, dass ich dann dorthin komme, egal, wo und wann es passiert, und ihm helfe, die Sache in den Griff zu kriegen.«
»Du bist ein wahrer Freund.«
»Heute Abend offensichtlich nicht.«
Ich küsste ihn auf die Stirn. »Ich kümmere mich darum.« Dann verabreichte ich ihm eine Ibuprofen, schaltete das Licht aus und zog mich wieder an.
KAPITEL 2
Die Welt wirkte wie erstarrt, während ich durch die nächtlichen Straßen stapfte, die jenseits meiner normalen Route lagen. Während der drei Jahre, in denen ich in diesem Viertel wohnte, war ich nur selten in diese Gegend gekommen. Normalerweise war die Smith Street mit ihren Geschäften, Restaurants und der U-Bahn-Station mein Ziel und nicht die Nevins Street. Keine Menschenseele war unterwegs, weit und breit fuhr kein einziges Fahrzeug. Und auf allem lag eine dünne Eisschicht: auf den Treppen der Sandsteinhäuser, auf den geparkten Autos und auf dem holperigen Gehweg. Um nicht auszurutschen oder gar hinzufallen, musste ich mich beim Gehen vorsehen.
Nachdem ich anderthalb Blocks durch diese zunehmend trostlosere Gegend marschiert war, bog ich nach rechts in die Nevins Street, wo die schönen Häuserzeilen aus dem rötlich braunen Sandstein abrupt endeten und von einem desolaten Straßenbild abgelöst wurden. Mein Blick fiel auf eine verrammelte Bodega. Sowohl das angrenzende als auch das gegenüberliegende Grundstück waren verwaist. Etwas weiter vorn türmte sich die triste, kantige Fassade eines Sozialbaus auf. Hier war die Dunkelheit noch undurchdringlicher als dort, von wo ich gekommen war, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, woran das lag. Seit ich in die Nevins Street gebogen war, hatte ich keine einzige Straßenlaterne mehr gesehen. Das spärliche Licht, das mich überhaupt etwas erkennen ließ, drang aus den Fenstern der Häuser, in denen noch jemand wach war. Ein paar Blocks weiter vorn herrschte hektisches Treiben: ein halbes Dutzend Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht und ein paar Krankenwagen mit offenstehenden Türen. Im Licht der Fahrzeugscheinwerfer liefen Menschen hin und her, ehe sie wieder in der Dunkelheit verschwanden.
Ich ging schneller und hielt auf das Geschehen zu, wo ich Billy vermutete. Doch noch vor der nächsten Straßenecke hörte ich eine Stimme.
»Scheiße, was soll das denn?«
Instinktiv griff ich in meine Manteltasche und wünschte mit einem Mal, ich hätte doch auf Mac gehört und seine Waffe mitgenommen. Die Stimme klang unwirsch, irritiert – und vertraut. Ich drehte mich um und sah einen Schwarzen in einem überdachten Türeingang auf einer Treppe sitzen. Er hatte die Hände auf den Knien und sprach mit sich selbst.
»Wir werden’s schon noch erfahren«, fuhr er fort.
Ich trat einen Schritt näher, spähte in die dunklen Schatten.
»So kommst du mir nicht davon.«
Als ein Lichtstrahl auf ihn fiel, konnte ich sein Gesicht erkennen.
»Wieso legst du nicht die Knarre weg, Jazz?«
Sein Blick wanderte ziellos hin und her; und obwohl ich nur ein paar Schritte weit weg war, schien er mich nicht zu erkennen.
»Nur die Ruhe. Es muss sich um ein Missverständnis handeln.«
Ich wusste ganz genau, wo er sich in seiner Phantasie befand, denn alles, was er sagte, kam mir bekannt vor, auch wenn die Reihenfolge nicht stimmte. Er war in die Vergangenheit abgetaucht, erlebte noch mal jenen achtzehn Monate zurückliegenden Nachmittag, an dem alles aus dem Ruder lief, ein Schuss ihn das rechte Auge kostete und ihm das Herz brach.
Er war damals nicht in der Lage gewesen, Jasmine zu töten, da er sie liebte.
Sie hingegen hatte es keine Überwindung gekostet, die Waffe auf ihn zu richten und abzudrücken.
In dem Moment richtete er unvermittelt den Blick auf mich. Seine schwarze Augenklappe war nach unten auf die rechte Wange gerutscht. Sein linkes, auf mich gerichtetes Auge funkelte in der dunklen Nacht.
»Schau dir das an«, sagte er. »Schau nur. Kannst du das
Weitere Kostenlose Bücher