Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
schnappte sich das letzte Stück Puri. Dank eines neuen Medikaments und eines neuen Physiotherapeuten schaffte sie es mittlerweile ohne Hilfe zu uns. Ihr Geschenk hatte sie in buntes Papier gewickelt und mit hübschen Bändern geschmückt. Ben rannte sie beinah um, als er versuchte, ihr das Präsent zu entreißen.
»Noch nicht.« Mom lachte. »Karin? Mac? Ihr legt jetzt besser los.«
Wir hatten auf sie gewartet. Ich ging in den Flur und öffnete die Tür des Kleiderschranks, in dem wir vergangenen Abend Bens sperriges Geschenk versteckt hatten: ein neues königsblaues Fahrrad mit extrem lauter Klingel und Stützrädern. Kaum hatte er das Geschenkpapier entfernt, sprang er auf den Sattel und klingelte in einem fort. Mom machte Anstalten, ihm jetzt ihr Geschenk zu überreichen, aber er hatte bereits das Interesse daran verloren. Ich drückte es Dathi in die Hand, die es an seiner Stelle auspackte.
»Ah, ein Helm«, verkündete sie. Dachte sie in dem Moment an den Helm, den Chali ihr geschenkt hatte und den sie nie aufsetzte, weil sie kein Fahrrad besaß? Sie stülpte den silbernen Helm mit den grünen Fröschen über Bens Kopf und schloss den Riemen.
In der Zwischenzeit hatte Mac sich in den Keller geschlichen. Ich hörte, wie er sich die Stufen hochkämpfte, kam ihm allerdings nicht zu Hilfe, weil ich nicht wollte, dass die Kinder mir hinterherliefen und die Überraschung ins Wasser fiel.
Als er atemlos ein wesentlich größeres Mädchenfahrrad – weiß mit kastanienbraunen Zierleisten – ins Wohnzimmer schob, fiel Dathis Kinnlade herunter. Mit Tränen in den Augen rannte sie zu Mac und schlang die Arme um seine Taille.
Wir hatten Ben eine Party versprochen, und die sollte er auch bekommen, obgleich sie wohl nicht die Art von Fete war, die er sich vorgestellt hatte. Es gab weder Spiele noch Kuchen, noch bunte Luftballons, vielmehr zogen Mac, Ben, Dathi und ich uns an, trugen unsere Räder aus dem Haus und wurden draußen von einem strahlend blauen Morgen empfangen. Auf diesen Teil des Geburtstagsprogramms verzichtete Mora, die später wieder zu uns stoßen wollte. Während der letzten paar Tage war die Temperatur gestiegen und ein Großteil des Schnees geschmolzen, sodass man sich draußen wieder ungehindert bewegen konnte. Ben und Dathi, beide in Helmen, fuhren mit ihren neuen Rädern auf dem Bürgersteig, während Mac und ich sie auf der Straße begleiteten. Allzu flott kamen wir nicht voran, denn wir mussten immer wieder wegen Ben anhalten, doch er erwies sich auf dem Rad als echter Kämpfer ... und als wir zum Eingang vom Brooklyn Bridge Park an der Atlantic Avenue gelangten, fuhr er schon recht sicher.
Wir hatten mit den anderen verabredet, uns hier zu treffen. Da wir zuerst ankamen, setzten wir uns auf eine Bank, von der aus man einen schönen Blick auf den East River und die Südspitze Manhattans hatte, wo die Wolkenkratzer in den Himmel ragten.
»Es ist kalt«, beschwerte sich Ben.
»Sobald wir uns bewegen, wird uns wieder warm.« Ich küsste seine Wange.
»Da sind sie!« Mac zeigte auf Mary und Fremont, die ebenfalls mit dem Fahrrad kamen. Der junge Mann preschte vor, und seine Mutter folgte ihm langsam.
Dathi fuhr ihnen entgegen. Trotz einiger Schlenker hielt sie sich tapfer auf dem Rad, auf das sie so lange gewartet hatte. Kurz darauf tauchte Billy auf seinem Drahtesel auf, dem sie gleichfalls entgegenfuhr.
»Tolles Teil, Kleine«, begrüßte er sie.
Breit grinsend folgte sie ihm zur Bank, wo Ben inzwischen auf Fremonts Schoß saß.
»Seid ihr bereit?« Dathi deutete auf den Pfad, der sich am Flussufer entlangschlängelte.
»Noch nicht«, antwortete ich. »Wir warten noch auf ein paar Leute.«
Mac versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen, doch seine gute Laune wirkte ansteckend, und auf einmal hatte ich alle Mühe, nicht auch zu grinsen. Wir beide wussten, wie viel unsere Überraschung Dathi bedeuten würde. Zwar begingen wir eigentlich Bens Geburtstag, aber dies war fürs Erste unsere letzte Chance, Abby zu treffen. Zur Feier des Tages würde eine ganze Schar von Menschen mit Ben am Wasser entlang zu einem Restaurant radeln, wo ein Kuchen mit seinem Namen auf ihn wartete.
Einige Minuten später kam Abby auf ihrem Rad angefahren, das sie vor ihrem Umzug nach Connecticut zusammen mit ein paar anderen Dingen aus dem Haus in der Bergen Street geholt hatte. Hinter ihr radelte ein Paar mittleren Alters: ihre Großeltern.
Ray und Sandy Gifford waren noch jung genug, um sich um ihre Enkelin
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