Karin Schaeffer 03 - Die stumme Zeugin
hätte ich gerade Gift geschluckt. Seit gut einem Jahr jagte Billy vergeblich den sogenannten Prostituiertenkiller, und nun schien es so, als hätte dieses brutale, in der ganzen Stadt gefürchtete Scheusal sein drittes Opfer in Brooklyn gefunden. In dem Jahr, bevor der Fall auf Billys Schreibtisch gelandet war, hatte derselbe Killer sieben Prostituierte in Manhattan umgebracht. Erst nachdem ein paar Mitglieder der Manhattan-SOKO der Brooklyn-SOKO zugeteilt worden waren, begann eine grenzüberschreitende Jagd in mehreren Stadtbezirken. Mein Blick glitt die dunkle Nevins Street hinunter, und plötzlich ergab es für mich einen Sinn, weshalb diese Straße so verlassen war: Es handelte sich um einen Rotlichtbezirk – ohne rote Lichter.
»Und außerdem wurde noch ein Kind angefahren.«
»Kind?«
»Ein Mädchen. Schätzungsweise zehn, zwölf Jahre alt.«
Zuerst reagierte ich bestürzt, dann wurde ich wütend. Was hatte ein Kind nach Mitternacht draußen auf der Straße zu suchen? Und vor allem hier, in dieser Gegend?
»Meinst du, sie wurde von dem flüchtenden Täter angefahren?« Das Objekt der laufenden Ermittlung: jenes gespenstische, unbekannte Wesen, das wie ein Tornado zuschlug und sich anschließend wie Nebelschwaden verflüchtigte.
»Schon möglich.«
Ich näherte mich der Bahre und erblickte im matten Scheinwerferlicht eines Streifenwagens ihr Gesicht: klein, mit leicht gebräuntem Teint, als wäre sie gerade aus dem Urlaub auf einer tropischen Insel zurückgekehrt, und seidigen, weizenblonden Haaren. Eine lange Strähne hatte sich gelöst und hing von der Bahre herab. Sie trug kleine goldene Ohrringe in Form von Sternen, und der blaue Lack auf ihren Fingernägeln glänzte, als hätte sie gerade eben erst eine Maniküre erhalten. Ihre Füße waren nackt, die Zehennägel in unterschiedlichen Farben lackiert.
»Wo sind ihre Schuhe?«, fragte ich Billy.
»Soweit wir es beurteilen können, hatte sie keine an. Ihre Füße weisen frische Schnittwunden auf.«
»Ist sie von daheim weggelaufen?«
»Wer weiß?«
»Sie erscheint mir zu jung für solch eine Aktion.« Wäre sie im älteren Teenageralter gewesen, hätte dieser Verdacht durchaus nahegelegen. Und hätte es sich bei dem Unfallopfer um eine Schwarze gehandelt, wäre trotz ihres Alters sogar die Möglichkeit in Betracht gezogen worden, dass sie auf der Straße als Prostituierte arbeitete. Aber die frisch lackierten Fuß- und Fingernägel schienen in eine andere Richtung zu deuten. Das Mädchen trug eine pinkfarbene Pyjamahose mit einem weißen Schäfchenmuster. Ich wandte mich ab und schloss die Augen.
»Karin, wir haben nicht den geringsten Schimmer, was sie hier draußen zu suchen hatte.« Billy klang so traurig, frustriert und verzagt, dass ich automatisch nach seiner Hand griff und sie fest drückte, obwohl sie von einem Schweißfilm überzogen war.
Vorsichtig schoben die Sanitäter die Bahre mit dem Mädchen in den Krankenwagen. Einer von ihnen setzte sich zu ihr, während der andere die Tür schloss, nach vorne ging und sich hinter das Steuer setzte.
»Wo ist ihre Familie?«, fragte ich.
»Wir wissen ja nicht mal, wer sie ist. Wir suchen die Gegend ab. Vielleicht wohnt sie irgendwo in der Nähe.«
Wenn Kinder mitten in der Nacht verschwinden, kriegen die Eltern das manchmal erst am nächsten Morgen mit. Wie groß war die Chance, dass ihre Eltern nicht mal auf das Läuten der Klingel reagierten?
Der Van eines Nachrichtensenders fuhr auf dem Weg zum anderen Tatort an uns vorbei. Wir sahen, wie er einem Schlagloch auswich, direkt neben dem Tatort parkte und seine Scheinwerfer auf die eh schon grell erleuchtete Szenerie rund um die tote Frau richtete.
»Die Bordsteinschwalbe ist noch warm gewesen, als wir hier eintrafen«, sagte Billy.
Ich wusste genug über Fälle dieser Art, um zu begreifen, wie ungewöhnlich dies war: Normalerweise hatte bei den Opfern, wenn sie entdeckt wurden, schon die Verwesung eingesetzt.
»Selber Modus Operandi?«
»Ja.«
Eine Prostituierte Anfang zwanzig, die der Täter zuerst erdrosselt und der er anschließend ein Messer zwischen die Brüste gestochen hatte. Das Muster änderte sich nie: Immer fehlte ein Kleidungsstück – entweder ein Ober- oder Unterteil -, und bei dem Messer handelte es sich stets um ein langes Jagdmesser, im Jahr 1963 hergestellt von einer Firma namens Stark, die heute nicht mehr existierte. Messer dieser Art wurden seit Jahrzehnten nicht mehr produziert, waren nie sonderlich weit
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