Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
63 Jahren, der Kaiser Ludwig von 62, der Erzbischof Hugo von 54 Jahren; drei starben im Säuglingsalter, die übrigen, soweit erkennbar, im Alter zwischen 20 und 40 Jahren[ 6 ]. Unter den Armen muß mit Tötung von Säuglingen, vor allem Mädchen gerechnet werden – aus Not. Auch ausgesetzt wurden viele – Urbilder für das Märchen von Hänsel und Gretel. Man konnte die Kinder nicht ernährten. So war das eben. Die Menschen lebten in ihrer Welt, reich und arm, satt und hungrig, nicht wenige in Not. Viele waren es ohnehin nicht, ein paar Millionen, wo heute zwanzigmal so viele leben.
Überregionale und interkulturelle Kommunikation, so selten sie zu beobachten ist, war den zahlenmäßig kleinen Eliten vorbehalten. Wenige Hundert Personen traten hervor. In den Reichsannalen der Zeit Karls des Großen (768–814) beispielsweise wurden lediglich etwa 150 Namen aufgeführt: Vertraute des Königs, Freundeund Feinde. Die erhaltenen Briefe und Urkunden könnten die Anzahl der Namen erhöhen, doch nicht den Gesamteindruck verschieben. Der Berater- und Helferstab des Königs, die Zahl seiner Vertrauten, würde noch immer erstaunlich klein bleiben. So wenig aber die Personen sich genannt finden, so selten die Beziehungen zu auswärtigen Herrschern.
Nur vereinzelte ‹diplomatische› Anlässe boten – von seltenen Pilgerreisen abgesehen – Gelegenheit für Begegnungen mit Fremden. ‹Technische› Schwierigkeiten hemmten die Beziehungen. Als Karl im Jahr 797 eine Gesandtschaft nach Bagdad schickte, dauerte es drei Jahre, bevor – nach einigen Todesfällen – die Antwort von dort bei ihm eintraf. Arabische Gesandte am Karlshof wurden eher bestaunt als verstanden; Juden dürften dabei als Dolmetscher tätig gewesen sein. Das Reisen war neben den Gefahren der Fremde, von Wegen und Schiffahrtsrouten, von Krankheit, Wetter und Jahreszeit abhängig; Gemächlichkeit war angesagt, nicht Eile.
Die nötigen Sprachkenntnisse besaßen die wenigsten. Dolmetscher waren selten, doch unabdingbar; mitunter vollzog sich die Kommunikation über mehrere ‹interpretierende› Zwischenstufen. Die Verständigung – auch mit den Griechen – beschränkte sich auf Nötigstes und Naheliegendes. Mißverständnisse waren an der Tagesordnung. Interkultureller Austausch zwischen dem Frankenreich und Byzanz oder der arabischen Welt war auf diesem Wege eher zäh als effizient. Er sah sich verwiesen auf einige wenige, begrenzte Kontaktzonen wie Spanien, Süditalien, Rom oder Venedig mit einer entsprechend verzögerten Ausbreitung in die nördlichen Regionen.
Kulturelle Eigenentwicklungen und Differenzen übertönten somit die Kulturkontakte. Diese waren nicht ausgeschlossen, aber ihre Dichte und Intensität recht unterschiedlich und insgesamt zu spärlich, als daß sie gediegene Informationen hätten vermitteln können. Kriege bescherten vor allem Beutegüter und weniger Erfahrungen mit fremden Kulturen. Pilgerfahrten nach Rom und ins Heilige Land verschafften eher seltsame Eindrücke. Das Frankenreich und seine Völkerschaften waren unter Karls Vater Pippin, so läßt sich vorsichtig zusammenfassen, zu sehr noch mit sich selbstbeschäftigt, als daß sie schon in die Weite der Welt hätten ausgreifen können. Erst unter Karl begann es sich für wenige Jahrzehnte zu ändern.
Immerhin repräsentierten die Gelehrten am Karlshof – Iren, Angelsachsen, Goten, Langobarden – unterschiedliche Wissenskulturen, von denen das Frankenreich profitieren konnte. Die geographischen Kenntnisse konnten sich dadurch erweitern. Ein Alkuin brachte angelsächsische Erfahrungswelten dem Karlshof näher. Ein Mann wie der Westgote Theodulf von Orléans konnte möglicherweise ein wenig Arabisch; jedenfalls öffnete sich durch ihn und seinesgleichen der geistige Horizont nach dem muslimischen Spanien. Langobarden wie Paulus Diaconus vermittelten byzantinisch-griechische Kultur nach dem Norden. Die Welt der Slawen und Skandinavier blieb im Dunkeln; keiner von ihnen ließ sich an Pippins oder Karls Hof erblicken.
Das Wissen der Bücher war an die Greifbarkeit einer Handschrift gebunden und verbreitete sich nur langsam. Die «Germania» des Tacitus etwa, die ja doch einige Informationen zu den Völkern rechts des Rheins bis hin nach Finnland zu bieten hatte, existierte um 850/860, soweit wir wissen, nur in einer oder zwei Handschriften in Fulda und Hersfeld[ 7 ]. Karl besaß, so wird vermutet, eine beachtenswerte Hofbibliothek, die freilich nur splitterhaft
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