Karl der Große: Gewalt und Glaube (German Edition)
erschlossen werden kann[ 8 ]. Antike Autoren, soweit sie sich des Lateins und nicht des Griechischen bedienten, vermittelten ein Bildungswissen, dem in der Regel keine eigene Erfahrung mehr zugrundelag. Auch die «Germanen» des Tacitus, die Völkerschaften nämlich rechts des Rheins, gab es nicht mehr. Wir wüßten auch nicht, daß die antiken oder spätantiken Texte herangezogen wurden, um ‹diplomatisches›, ‹politisches› oder militärisches Handeln vorzubereiten.
Isidors von Sevilla «Etymologien» dürften noch die weiteste Verbreitung gefunden haben. Sie ließen sich in je einem Buch über die Erde, deren Kugelgestalt bekannt war, über das Paradies und die Provinzen des Erdkreises aus, sowie allgemein über Städte, Äcker und Ackermaße. «Die bewohnbare Erde befindet sich», damit setzte das Buch 14 ein, «in der mittleren Region der Welt» (14,1,1).«Der Erdkreis ist von allen Seiten vom Ozean umgeben» (14,2,1). Es folgten die Kontinente Asien (wo das irdische Paradies lag), Europa und «Lybien» (d.h. Afrika). Die
Arabia beata
kannte noch keine Muslime (14,3,15). Inseln wurden erwähnt und Gebirge, doch keine Menschen. Die Darstellung war rettungslos veraltet.
Das folgende Buch 15 nannte zwar zahlreiche Städte und ihre mythischen Gründer, menschliche Wohnstätten, öffentliche Gebäude, Befestigungen und Ähnliches, doch wiederum keine Menschen, die ihren Tätigkeiten nachgingen. Immerhin, die «Etymologien» prunkten mit einem reichen Wissensschatz, tradierten Namen und Zuordnungen. Doch den Weg etwa von Aachen nach Rom oder Konstantinopel, Jerusalem oder Bagdad konnte man damit nicht verfolgen. Zurechtfinden in der Welt oder nur in Europa ließ sich mit Hilfe dieser Enzyklopädie aus Spanien kaum.
Über die unterschiedlichen Kulturen der «Alten Welt», durchweg vormoderne Gesellschaften, wenn auch unterschiedlichster Organisation und Geschlossenheit, erfuhr man nichts. Die «barbarischen» Zivilisationen des europäischen Nordens und Ostens, die vergleichsweise schlichten Ackerbauern und Viehzüchter der Länder rechts des Rheins und nördlich der Donau sahen sich nicht verglichen mit den mittelmeerischen Hochkulturen. Nomaden waren die Awaren im Karpatenbecken; aber niemand beschrieb ihre Lebensformen. Das kollektive Identitätsbewußtsein der Eliten, für das Rang, Status und Verwandtschaft grundlegend waren, um an den maßgeblichen Entscheidungen der jeweiligen Gruppen zu partizipieren, wurde nicht thematisiert. Man wußte insgesamt wenig voneinander.
Man wird die Perspektive freilich auch umkehren dürfen: Auch die Welt wußte wenig von den Franken, ihren Königen und ihrer Anstrengungen um eine neue Blütezeit. Allein in Byzanz sammelte man frühzeitig Informationen über sie. Die muslimischen Herrscher dürften Christen als Gesandte zu den Christen geschickt haben. Für Hârûn al-Rašid beispielsweise, der Gesandtschaften mit Karl dem Großen tauschte, fanden sich bei arabischen Geschichtsschreibern nur schwache, erst neuerdings erkannte Spuren dieses Austauschs[ 9 ].
Nicht einmal das näher Gelegene sah sich im Frankenreich ausführlichbeschrieben. Kümmerten sich der König und seine Eliten so wenig um die Länder und Völker ringsum? Selbst Einhard, der die einzelnen Kriege seines Königs gegen fremde Völker aufzählte, schwieg über die Bekriegten. Hatte Karl deshalb, wegen Uninformiertheit, die schwere Schlappe im Baskenland im Jahr 778 erlitten? Was wußte der karolingische Hof von Griechen und den Muselmanen Spaniens, von Basken, Awaren, Wikingern, die für ihn Piraten waren, von Slawen, Wilzen oder Abodriten, zu denen keine Schwerter exportiert werden sollten? Wie nahm er sie alle wahr? Wieweit achtete er sie? Toleranz, so zeigen die flüchtigsten Blicke in zeitgenössische Fürstenspiegel und Erziehungsschriften, war deren Sache nicht. Der Fremde, war er nicht Händler, Gesandter oder Gast, wurde in seinem Fremdsein kaum geachtet, eher als Bedrohung empfunden. Jede Kommunikation mit ihm fiel schwer und mißlang nur allzuhäufig. Es fehlten angemessene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, um die Anderen in ihrem Anderssein erfassen und würdigen zu können.
Karl duldete Fremde an seinem Hof, ja, er liebte sie, die dort so zahlreich waren, daß es in Palast und Reich geradezu als lästig empfunden wurde, wie Einhard notierte. Der Biograph dürfte dabei an die gelehrten Iren, Angelsachsen, Westgoten und Langobarden gedacht haben und daran, daß sie den Franken oder Alemannen so
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