Karneval der Alligatoren
eine ausgegrabene
Leiche, ohne Nahrung und Ausrüstung saß er da an den Altar gelehnt wie einer,
den man aus dem Grab gezerrt hatte und hier verlassen auf das Jüngste Gericht
warten ließ.
Endlich wurde ihm klar, daß der
andere ihn gar nicht bemerkt hatte. Die tiefliegenden Augen waren fast ganz vom
Star bedeckt, die Sonne spiegelte sich kaum darin, beide Augenhöhlen waren von
schmutziger, blasig aufgezogener Haut und Eiterbeulen umgeben. Kerans wurde
klar, daß der Mann kaum mehr als einen schwachen Widerschein der Sonne sehen
konnte. Als die leuchtende Scheibe endgültig verschwunden war und Dunkelheit
einfiel – der Regen fiel immer noch grau und trostlos dicht –, hob der Fremde
seinen Kopf, schmerzhaft suchend, als wolle er das Bild in sein Inneres
zwingen, das sich so verheerend in seiner Retina eingebrannt hatte, und ließ
ihn entmutigt gegen das steinerne Kissen sinken. Fliegen krochen ihm über die
regennasse Haut, auf seine Eiterbeulen.
Kerans beugte sich zu dem Mann, der
jetzt doch zu merken schien, daß sich da etwas bewegte.
»Hallo, du da!« sagte er mit
schwacher, rauher Stimme.
»Soldat, komm her da. Wo bist du
her?« Seine linke Hand bewegte sich krabbenhaft über den nassen Stein. Dann
nahm er wieder seine vorige Stellung ein; die Fliegen auf seinem Gesicht schien
er gar nicht zu bemerken.
»Wieder weg! Aahh-ah! Sie geht weg
von mir. Hilf mir, Soldat, wir wollen ihr nach. Jetzt gleich, ehe sie für immer
geht.«
Einem sterbenden Bettler gleich
streckte er seine Klaue nach oben und ließ dann Hand und Kopf wieder
zurücksinken.
Kerans kniete sich neben ihn. An den
Resten der Hose, die der Mann anhatte, war zu sehen, daß er Offizier gewesen
sein mußte. Die verkrampfte rechte Hand öffnete sich ruckweise, in ihrer Mitte
lag ein kleiner, silberner Zylinder mit Zifferblatt – ein Flieger-Notkompaß.
»He, Soldat!« Offenbar hatte sich der
Mann erholt, denn er gab jetzt strikte Befehle: »Bleib bei mir! Du kannst dich
jetzt ausruhen, ich halte Wache. Morgen ziehen wir weiter.«
Kerans setzte sich neben ihn und
wischte ihm Regentropfen und Fliegen vom Gesicht. Er legte die Hand auf seine
verwüsteten Wangen und sagte leise: »Hardman, ich bin Kerans – Doktor Kerans.
Ich gehe mit Ihnen weiter. Versuchen Sie sich auszuruhen.« Hardman reagierte
nicht auf seinen Namen, runzelte aber erstaunt die Stirn.
Kerans grub mit seinem Klappmesser
Fliesen aus und baute nach und nach eine Schutzmauer um dem Schlafenden. Die
Zwischenräume füllte er mit Lianen von den Mauern. Obwohl Hardman jetzt vor dem
Regen geschützt war, schlief er sehr unruhig in seinem dunklen Alkoven. Kerans
ging zum Dschungel zurück und pflückte eßbare Beeren, dann kehrte auch er in
den Schutz der Fliesenhütte zurück und wachte bis zum Morgen.
Die nächsten drei Tage blieb er bei
dem Blinden, fütterte ihn mit Beeren und sprühte ihm sein letztes Penicillin
auf die Augen. Er verstärkte die Hütte mit weiteren Fliesen und bereitete ein
primitives Laublager für Hardman und sich selbst. Am Nachmittag und abends saß
Hardman vor dem offenen Eingang und betrachtete die sinkende Sonne hinter den
Nebenschleiern. Sobald die Regenschauer nachließen, glühte sein grünliches
Gesicht eigenartig auf. Er erinnerte sich nicht an Kerans und sprach ihn immer
als ›Soldat‹ an, manchmal riß er sich aus seinem Dämmerdasein und gab eine
Anzahl unzusammenhängender Befehle für den nächsten Tag. Kerans hatte das
Gefühl, daß Hardmans Verhalten nur einen blassen Widerschein seines wahren
Seins darstellte, das durch Delirium und Entbehrungserscheinungen überdeckt
wurde. Seit ungefähr einem Monat war er offenbar so gut wie blind und hatte
kriechend instinktiv den höhergelegenen Platz erklommen, von dem aus er die
Sonne am besten sehen konnte, das einzige, was jetzt auf seine kaum noch
reagierende Retina wirkte.
Am zweiten Tag hatte Hardman gierig
zu essen begonnen, als bereite er sich auf einen weiteren Marsch durch den
Dschungel vor; am Ende des dritten Tages hatte er mehrere Büschel der
Riesenbeeren verzehrt. Sein ausgemergelter Körper wurde ganz plötzlich wieder
kräftig, am Nachmittag konnte er sich schon auf den Beinen halten und lehnte
bei Sonnenuntergang an der Tür. Kerans wußte nicht, ob er ihn jetzt erkannte
hatte, jedenfalls hörten die Monologe und Befehle auf.
Er war gar nicht überrascht, am
nächsten Morgen Hardman nicht mehr neben sich zu finden, machte sich aber in
der näheren Umgebung auf die Suche
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