Karpfen, Glees und Gift im Bauch
durchgängigen, grauen Anstrich trug, sah aus, als hätte eine ganze Herde Kühe monatelang darauf herumgefurzt.
Selbst an den Betonfundamenten, die ebenfalls brüchig und zerfressen vor sich hin vegetierten, hatte sich der Rost schon festgesetzt und lief in rotbraunen Schlieren an der Oberfläche entlang. Aus den zahllosen Schlöten und Kaminen quoll schwarzer und grauer Rauch und stieg ungefiltert in den eh schon smoghaltigen Himmel auf. Die Kesselanlagen wurden nur noch durch Korrosionsablagerungen zusammengehalten und erweckten ebenfalls keinen vertrauenswürdigen Eindruck. Das ganze Gelände war mit Unrat übersät. Ratten huschten umher und wurden von Straßenkötern gejagt, welche die Industrieanlage als ihr Domizil ausgewählt hatten. Als Außenstehender musste man sich wundern, dass es überhaupt noch ein Lebenszeichen innerhalb dieser Anlage gab.
In dem Gebäude, in dem vor Kurzem die Explosion gewütet hatte und hundert Tonnen Benzol in den Songhua Jiang entließ, wurde immer noch eifrig gewerkelt, geschweißt und repariert. Die Herstellungsprozesse des FCKW waren trotzdem bereits angelaufen. Männer und Frauen in weißen Mänteln überwachten die Apparaturen, Gefäße und Destillationsanlagen.
Chlorkohlenwasserstoffen wurden die Chloratome entzogen und gegen Fluoratome ausgetauscht. Als Fluorierungsmittel dienten Antimontrifluorit, sowie Fluorwasserstoff. Für die Synthese der Ausgangsverbindungen wurde Chlor eingesetzt. Die Angestellten und Arbeiter im Chemiewerk störte es nicht, dass sie verbotene Fluorierte Chlorkohlenwasserstoffe, kurz FCKW genannt, herstellten. Ihnen allen war das Hemd näher als der Kittel. Hungrige Mäuler waren zu stopfen. Das Ozonloch war himmelweit weg. Da war die Luftverschmutzung ihrer Stadt weitaus schlimmer.
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Zur gleichen Zeit:
Tang Kelin stand vor dem Zollamt in Schanghai. Das ehrwürdige Gebäude, welches Ende der zwanziger Jahre neu errichtet wurde, fügte sich harmonisch in die anderen Kolonialstilgebäude des weltberühmten Bund ein. Zweiundfünfzig Gebäude gehörten zu der eineinhalb Kilometer langen Haupttouristenattraktion der chinesischen Handels- und Wirtschaftsmetropole. Vom nahen Huangpu - Fluss dröhnte das Nebelhorn eines flussabwärts fahrenden Tankers. Langsam zogen die hohen Aufbauten des Schiffes an der Uferpromenade vorbei. Drüben in Pudong waren die mächtigen Hochhäuser, der Jinmao Tower und das 493 Meter hohe Shanghai World Financial Center nur schemenhaft im grauen Dunst zu erkennen. Der Pearl Tower mit seinen fünf Kugeln ruhte auf mächtigen Betonstützen, nahe, am gegenüberliegenden Ufer. Tang Kelin wandte sich wieder dem Zollamt zu. Er stand vor dem Haupteingang des Ostflügels, der durch vier dorische Säulen geprägt war und sah hinauf zu dem achtzig Meter hohen Glockenturm. Die gewaltigen Zifferblätter hatten einen Durchmesser von 5,3 Meter und waren dem Londoner Big Ben nachgebaut. Dann trat er ein.
Fünf Minuten später saß er seinem Freund Jia Minggang gegenüber, der für alle Exporte zuständig war, welche den Hafen von Schanghai verließen.
»Und du rätst mir also nach wie vor, meine Container nicht direkt nach Deutschland zu verschiffen, sondern den Umweg über Istanbul zu wählen?«, richtete er seine Frage an den Zollbeamten.
»Ganz genau«, bestätigte dieser. »Schau, unser Land ist Mitglied der WTO und manchmal bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns dem Druck und den Vorschriften des westlichen Auslands zu beugen, oder zumindest so zu tun, als wären wir kooperationswillig. Natürlich kommen aus unserem Land die meisten Plagiate. Das wissen wir selbst. Daran wird sich auch so schnell nichts ändern. Millionen Chinesen leben davon. Dass den westlichen Industrieländern dadurch hohe Milliardenverluste entstehen, steht auch außer Zweifel. Das ist mir persönlich aber ziemlich egal, und ich denke, unserer Regierung ebenfalls. Dennoch, am 20. und 21. Dezember letzten Jahres mussten wir uns, im Rahmen der Gründung des EU-China Joint Customs Cooperation Committee’s, zu einer internationalen Zusammenarbeit mit ausländischen Zollbeamten bereit erklären. Drei Monate später rückten die ersten von denen bei uns an und stöbern seitdem in unseren Exportvorgängen herum. Besonders der deutsche Zollverbindungsbeamte, Kurt Krüger, ist ein scharfer Hund. Wenn der sich in einen Vorgang verbissen hat, lässt der nicht mehr los. Wie ein deutscher Schäferhund. Auch wenn du keine Plagiate verschiffst, sondern
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