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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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technischen Schwierigkeiten waren nicht unüberwindbar.
    Jed war zwar nicht sehr jung, im
Grunde genommen war er es nie gewesen, aber er war ein relativ unerfahrener
Mann. Was Menschen betraf, kannte er nur seinen Vater, und auch den nicht sehr
gut. Dieser Umgang konnte ihm nicht zu großem Optimismus verhelfen, was
zwischenmenschliche Beziehungen anging. Er hatte bisher nur beobachten können,
dass sich das Dasein der Menschen um die Arbeit drehte, die den größten Teil ihres Lebens in Anspruch
nahm und in Organisationen unterschiedlicher Größe verrichtet wurde. Nach den
Jahren der Arbeit begann eine kürzere Zeit, die durch das Auftreten
verschiedener Pathologien gekennzeichnet war. Manche Menschen versuchten sich
während der aktivsten Zeit ihres Lebens zu Mikrogruppierungen namens Familien zusammenzuschließen,
die die Reproduktion der Gattung zum Ziel hatten; aber diese Versuche schlugen
meist aus Gründen fehl, die mit dem »Wesen der Zeiten« zu tun hatte, sagte er
sich vage und trank einen Espresso mit seiner Geliebten (sie waren allein an
der Theke der Segafredo -Bar, und überhaupt war im Flughafen nur wenig los, das unvermeidliche
Stimmengewirr versank in einer Stille, die untrennbar mit diesem Ort verbunden
zu sein schien, wie in manchen Privatkliniken). Doch das war eine Illusion, das
allgemeine Transportsystem der Menschen, das aktuell eine sehr große Rolle bei
der Erfüllung individueller Schicksale spielte, legte nur eine kurze Pause ein,
ehe mit den Sommerferien wieder eine neue Sequenz maximaler Auslastung beginnen
würde. Dennoch war es verlockend, darin eine Huldigung, eine diskrete Huldigung
der sozialen Maschinerie an die so schnell unterbrochene Liebe der beiden zu
sehen.
    Jed zeigte keinerlei Reaktion, als
Olga nach einem letzten Kuss auf die Passkontrolle zuging, und erst als er
wieder in seiner Wohnung am Boulevard de l’Hôpital war, begriff er, dass er,
fast ohne es zu merken, in einen neuen Lebensabschnitt eingetreten war. Er
merkte es daran, dass ihm alles, was noch vor ein paar Tagen seine Welt
ausgemacht hatte, mit einem Schlag völlig hohl vorkam. Straßenkarten und
Fotoabzüge übersäten zu Hunderten den Boden, aber all das hatte für ihn absolut
keinen Sinn mehr. Resigniert verließ er das Haus, kaufte im Casino-Supermarkt
am Boulevard Vincent-Auriol zwei Rollen fester Plastiksäcke für »Bauschutt«,
kehrte wieder heim und begann sie zu füllen. Papier ist schwer, dachte er, er
würde wohl mehrere Male gehen müssen, um die Müllsäcke hinunterzutragen. Er war
dabei, die Arbeit von Monaten oder gar Jahren zu zerstören; dennoch zögerte er
keine Sekunde. Viele Jahre später, als er berühmt – genauer gesagt sogar
außerordentlich berühmt – geworden war, sollte Jed mehrfach die Frage gestellt
werden, was es in seinen Augen bedeute, Künstler zu sein. Er fand darauf weder eine interessante noch
eine originelle Antwort, bis auf eine Sache, die er infolgedessen bei fast
jedem Interview wiederholte: Künstler zu sein bedeute in seinen Augen, sich zu unterwerfen . Sich
rätselhaften, unvorhersehbaren Botschaften zu unterwerfen, die man in
Ermangelung eines besseren Begriffs und ohne jeden religiösen Glauben als Intuitionen bezeichnen müsse,
Botschaften, die sich dem Künstler trotzdem auf kategorische Weise aufdrängten,
ohne ihm die geringste Möglichkeit zu lassen, sich ihnen zu entziehen – außer
wenn er auf jegliche Form von Integrität und Selbstachtung verzichtete. Diese Botschaften
konnten bewirken, dass der Künstler ein Werk oder gar eine ganze Reihe von
Werken zerstörte, um eine völlig neue Richtung einzuschlagen – aber manchmal
stand er anschließend auch ohne neue Richtung da, ohne Projekt und ohne die
geringste Hoffnung, seine Arbeit fortsetzen zu können. In dieser und nur in
dieser Hinsicht konnte man die Situation des Künstlers manchmal als schwierig bezeichnen. Darin
und nur darin unterschied sie sich von den Tätigkeiten oder Berufen , denen er in der
zweiten Phase seiner Laufbahn eine Huldigung darbringen sollte, jener Phase,
die ihm Weltruhm einbringen würde.
    Am nächsten Tag trug er die ersten
Müllsäcke nach unten, dann zerlegte er langsam und sorgfältig die Fachkamera,
ehe er den Balgen, die Mattscheiben, die Objektive, das Scanrückteil und das
Gehäuse in den entsprechenden Köfferchen verstaute. Das Wetter im Pariser
Becken blieb schön. Am Nachmittag schaltete er den Fernseher ein, um den
Auftakt zur Tour de France zu verfolgen, bei dem

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