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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Dem Hotelführer zufolge
»verfeinerte die Küche eine regionale Tradition von unendlichem Reichtum«, man
hatte dort »die schönsten Seiten Frankreichs in konzentrierter Form« vor sich.
In diesem Hotel erklärte Olga am Pfingstmontag beim Frühstück, dass sie Ende
des Monats nach Russland zurückkehren werde. Sie kostete in jenem Moment gerade
eine Walderdbeerkonfitüre, und die Vögel, die alle menschlichen Dramen
gleichgültig ließen, zwitscherten in dem von Le Nôtre konzipierten Park. Ein
paar Meter neben ihnen schlug sich eine chinesische Familie den Bauch mit
Waffeln und Bratwürsten voll. Die Bratwürste zum Frühstück waren im Château du
Vault-de-Lugny ursprünglich eingeführt worden, um den Wünschen
traditionsbewusster angelsächsischer Gäste entgegenzukommen, die Wert auf ein
proteinreiches, fettes Frühstück legten. Es hatte darüber im Verlauf einer
kurzen, aber entscheidenden Unternehmensbesprechung eine Diskussion gegeben;
die noch unklaren, schlecht formulierten gastronomischen Vorlieben der
zahlreichen neuen chinesischen Gäste – aber Bratwürste schienen offensichtlich
eine davon zu sein – hatten dazu geführt, dass dieses Produkt nicht von der Bestellliste
des Hotellieferanten gestrichen wurde. Andere burgundische Romantik-Hotels
kamen in jenen Jahren zu derselben Schlussfolgerung, und dadurch blieb der seit
1927 in jener Gegend ansässigen Firma Saucisses et
Salaisons Martenot der Konkurs – und eine
Kurzmeldung im Regionalprogramm von FR 3 in der Rubrik »Soziales« – erspart.
    Olga jedoch, die sowieso nicht auf
proteinreiche Nahrung stand , zog die Walderdbeerkonfitüre vor und wurde allmählich
richtig nervös, weil ihr klar war, dass sich ihre Zukunft innerhalb weniger
Minuten hier entscheiden würde, und die Männer waren heutzutage so schwer zu
begreifen; nicht zu Anfang, denn Miniröcke erzielten noch immer die erwünschte
Wirkung, aber anschließend wurden die Typen immer seltsamer. Michelin war fest
entschlossen, die Präsenz der Unternehmensgruppe in Russland zu verstärken,
dieses Land war eine ihrer vorrangigen Entwicklungsachsen, Olgas Gehalt würde
glatt verdreifacht, und sie würde fünfzig Leute unter sich haben, das war eine
Beförderung, die sie auf keinen Fall ablehnen konnte, in den Augen der
Betriebsleitung wäre eine Weigerung nicht nur unverständlich, sondern sogar
kriminell gewesen, ein leitender Angestellter hat nicht nur Verpflichtungen
gegenüber seiner Firma, sondern auch sich selbst gegenüber, er muss seine
Karriere hegen und pflegen wie Christus die Kirche oder die Ehefrau den
Ehemann, er muss auf jeden Fall den Aufstiegsmöglichkeiten ein Minimum an
Aufmerksamkeit widmen, wenn er seinen betroffenen Vorgesetzten nicht zeigen
will, dass er nie würdig sein wird, subalterne Positionen hinter sich zu
lassen.
    Jed hüllte sich in bockiges Schweigen,
stocherte nur ab und zu mit dem Löffel in seinem weichen Ei herum und warf Olga
betretene Blicke zu wie ein bestraftes Kind.
    »Du kannst nach Russland kommen«,
sagte sie. »Du kannst kommen, wann du willst.«
    Sie war jung oder genauer gesagt noch jung , sie glaubte, dass
das Leben verschiedene Möglichkeiten bot und dass eine menschliche Beziehung im
Lauf der Zeit mehrere widersprüchliche Entwicklungen durchmachen konnte.
    Ein Windhauch bewegte die Gardinen der
Fenstertüren, die auf den Park hinausgingen. Das Zwitschern der Vögel
verstärkte sich mit einem Schlag und verstummte dann. Die Chinesen am
Nebentisch waren verschwunden, ohne dass sie es bemerkt hatten, sie hatten sich
gleichsam in Luft aufgelöst. Jed schwieg noch immer, dann legte er den Löffel
zur Seite.
    »Du brauchst aber lange, um mir eine
Antwort zu geben«, sagte sie. »Kleiner Franzose …«, fügte sie mit sanftem
Vorwurf hinzu. »Kleiner unentschlossener Franzose …«

IX
    A M S ONNTAG, DEN 28. J UNI , begleitete Jed Olga nachmittags zum Flughafen Roissy.
Es war traurig, irgendetwas in ihm begriff, dass sie gerade einen todtraurigen
Moment erlebten. Das schöne, beständige Wetter begünstigte das Aufkommen
entsprechender Gefühle nicht. Er hätte den Trennungsprozess unterbrechen, sich
ihr vor die Füße werfen und sie anflehen können, das Flugzeug nicht zu nehmen;
vermutlich hätte sie auf ihn gehört. Aber anschließend? Sollten sie sich eine
neue Bleibe suchen (der Mietvertrag für die Wohnung in der Rue Guynemer lief
Ende des Monats aus)? Den für den folgenden Tag angesetzten Umzug absagen? All
das war möglich, die

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