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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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aber bestimmt
nicht für ein Romantik-Hotel im Cantal. Vielleicht lasse ich es aus dem Führer
streichen.«
    Sie tat nichts dergleichen, aber
dieses Gespräch brachte sie zum Nachdenken, und ein paar Tage später schlug sie
ihren Vorgesetzten vor, eine statistische Erhebung über die tatsächlich
konsumierten Gerichte in den Hotels der Kette in Auftrag zu geben. Die
Ergebnisse wurden erst sechs Monate später bekannt, bestätigten aber ihre
Vermutung in starkem Maße. Kreative sowie asiatische Küche wurden einhellig
abgelehnt. Nordafrikanische Küche wurde nur im äußersten Süden Frankreichs und
in Korsika geschätzt. Die Restaurants, die das Image »traditioneller« Küche
pflegten oder mit Gerichten »nach Großmutters Art« warben, verzeichneten
Einnahmen, die um 63 Prozent höher lagen als der Durchschnitt. Käse und
Gerichte vom Schwein waren sichere Werte, aber vor allem Speisen auf der
Grundlage seltsamer Tiere, die eine nicht nur französische, sondern regionale
Konnotation hatten, wie Ringeltauben, Weinbergschnecken oder Lampreten,
erreichten außergewöhnlich hohe Quoten. Der Leiter des Segments Fine Food , der den Kommentar
zu dem Bericht verfasst hatte, zog ohne Umschweife folgende Schlussfolgerung:
    Wir haben vermutlich den Fehler begangen, uns
auf die gastronomischen Gewohnheiten der angelsächsischen Gäste zu konzentrieren,
die auf der Suche nach einem gastronomischen Erlebnis light sind, wobei die
sanitäre Sicherheit für sie eine ebenso wichtige Rolle spielt wie der
Geschmack, was sich durch die Vorliebe für pasteurisierte Produkte und die ständige
Sorge um die Gewährleistung einer unterbrechungsfreien Kühlkette ausdrückt.
Diese Kategorie von Gästen existiert in Wirklichkeit jedoch gar nicht:Amerikanische Gäste waren in Frankreich nie sehr zahlreich, und der Anteil der
Engländer verringert sich ständig; die angelsächsischen Besucher machen in
ihrer Gesamtheit nur noch 4,3 Prozent unseres Umsatzes aus. Unsere neuen Gäste,
unsere realen Gäste, die aus jüngeren Ländern mit raueren Sitten sowie erst vor
kurzem eingeführten und ohnehin nur selten eingehaltenen sanitären Normen
stammen, sind im Gegensatz dazu bei ihrem Frankreichaufenthalt auf der Suche
nach einer Vintage - wenn nicht gar Hardcore -Erfahrung im Bereich der Gastronomie. Nur die Restaurants, die
imstande sind, sich diesen neuen Gegebenheiten anzupassen, sollten es in
Zukunft verdienen, in unserem Führer genannt zu werden.

VIII
    S IE VERLEBTEN MEHRERE glückliche Wochen (es war nicht mehr, es konnte nicht
mehr das übersteigerte, fiebrige Glück junger
Menschen sein, es kam für sie nicht mehr
in Frage, sich ein Wochenende lang auszutoben oder sich fürchterlich in
die Wolle zu kriegen ; es war schon – auch
wenn sie noch in einem Alter waren, in dem man sich amüsieren kann – die
Vorbereitung auf das epikureische, friedliche, gepflegte Glück ohne Snobismus,
das die westliche Gesellschaft den Angehörigen der gehobenen Mittelschicht
gegen Mitte ihres Lebens bietet). Sie gewöhnten sich an den theatralischen Ton,
den die Ober in den mit einem Stern ausgezeichneten Restaurants annahmen, um
die Zusammensetzung der »Amuse-Bouche« und sonstiger »Grüße aus der Küche«
anzukündigen, und auch an ihre Art, wie sie bei jedem neuen Gang, den sie
brachten, in beflissenem, leicht gestelztem Tonfall »Lassen Sie es sich
weiterhin munden, Messieurs Dames!« wünschten, was Jed jedes Mal an die Worte »Ich
wünsche Ihnen eine andächtige Messe« erinnerte, die ihnen ein junger,
dicklicher, vermutlich sozialistischer Priester zugerufen hatte, als Geneviève
und er, einem unerklärlichen Impuls folgend, die Kirche Notre-Dame-des-Champs
kurz vor Beginn der Sonntagsmesse betreten hatten, nachdem sie gerade in dem
Appartement am Boulevard du Montparnasse, in dem sie damals wohnte, miteinander
geschlafen hatten. Jed hatte in der Folgezeit mehrfach an diesen Priester
zurückgedacht, der vom Äußeren her François Hollande ein wenig ähnelte, aber im
Gegensatz zu dem Politiker hatte er sich verschnitten
um des Himmelreiches willen . Viele Jahre
später, als Jed begonnen hatte, an der Serie
einfacher Berufe zu arbeiten, hatte er
mehrfach mit dem Gedanken gespielt, das Porträt eines dieser keuschen,
opferbereiten, immer seltener anzutreffenden Männer anzufertigen, die durch die
Großstädte wanderten, um mit ihrem Glauben den Menschen Stärkung zu bringen.
Aber dieses Vorhaben war gescheitert, er hatte es nicht einmal geschafft,

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