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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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das
Thema richtig in den Griff zu bekommen. Als Erben einer tausendjährigen
spirituellen Tradition, die niemand mehr richtig verstand, waren die Priester,
die früher einen hohen Rang in der Gesellschaft eingenommen hatten, heutzutage
nach einem furchtbar langen, schwierigen Studium, das die Beherrschung der
lateinischen Sprache, des kanonischen Rechts, der rationalen Theologie und
anderer fast unverständlicher Materien voraussetzte, dazu verurteilt, unter
elenden materiellen Bedingungen zu leben; sie nahmen die Metro in Gemeinschaft
anderer Menschen, gingen von einer Gruppe, in der das Evangelium diskutiert wurde,
zu einem Alphabetisierungskurs, lasen jeden Morgen die Messe vor einer
spärlichen, alternden Gemeinde, jegliche Form von Sinnenfreuden war ihnen
untersagt, bis hin zu den elementaren Freuden des Familienlebens, und dennoch
waren sie aufgrund ihrer Funktion gezwungen, Tag für Tag uneingeschränkten
Optimismus zu zeigen. Fast alle Gemälde von Jed Martin stellen, wie
Kunsthistoriker später schreiben sollten, Männer oder Frauen dar, die bei der
Ausübung ihres Berufs einen gewissen guten Willen zeigten, auch wenn es sich dabei nur um einen bedingt
guten Willen handelte, denn die Unterwerfung unter berufliche Zwänge brachte
ihnen als Gegenleistung dafür eine je nach Berufsbranche unterschiedliche
Mischung aus finanzieller Befriedigung und Stärkung des Selbstbewusstseins ein.
Die demütigen, mittellosen, von allen verachteten jungen Großstadtpriester, die
allen Ärgernissen des Großstadtlebens ausgesetzt waren, ohne zu irgendeinem
seiner Vergnügen Zugang zu haben, mussten jemandem, der nicht ihren Glauben
teilte, verwirrend und kaum erschließbar erscheinen.
    Der Hotelführer French Touch schlug im
Gegensatz dazu eine begrenzte, aber nachweisbare Palette von Vergnügungsmöglichkeiten
vor. Man konnte an der Befriedigung des Inhabers von La
Marmotte Rieuse teilhaben, wenn er die
Beschreibung seines Hotels mit dem gelassenen, selbstsicheren Satz beendete:
»Geräumige Zimmer (Badezimmer mit Whirlpool), verführerische Menüs, zehn
hausgemachte Konfitüren zum Frühstück: Hier sind Sie wirklich in einem
Romantik-Hotel.« Man konnte sich von der poetischen Prosa des Hoteldirektors
des Carpe Diem mitreißen lassen, der den Aufenthalt in seinem Haus mit folgenden Worten
beschrieb: »Ein Lächeln wird Sie vom Garten (mit mediterranen Gewächsen) in
Ihre Suite geleiten, Räumlichkeiten, die alle Ihre Sinne durcheinanderbringen werden.
Dann brauchen Sie nur noch die Augen zu schließen, um die Düfte des Paradieses
und das Plätschern des Springbrunnens im Hamam aus weißem Marmor im Gedächtnis
zu behalten und nur noch eine Gewissheit durchsickern zu lassen: ›Hier ist das
Leben schön.‹« Im grandiosen Rahmen des Château de
Bourbon-Busset , in dem die Nachfahren
jener illustren Familie mit vollendeter Eleganz die Kunst des stilvollen Empfangs
fortführen, konnte man ergreifende Erinnerungsstücke betrachten (ergreifend
vermutlich nur für die Familie der Bourbon-Busset), die aus der Zeit der
Kreuzzüge stammten; manche Zimmer waren mit Wasserbetten eingerichtet. Dieses
Nebeneinander von altväterlichen oder regionalen Elementen und zeitgenössischen hedonistischen
Einrichtungsgegenständen rief manchmal einen seltsamen Eindruck hervor, fast
den einer Geschmacksverirrung, aber vielleicht, sagte sich Jed, suchten die
Gäste der Hotelkette oder zumindest deren eigentliche Zielgruppe gerade diese
unwahrscheinliche Mischung. Die sich auf konkrete Dinge beziehenden Versprechen
der Hotelbeschreibungen wurden jedenfalls eingehalten. Im Park des Château des Gorges du Haut-Cézallier sollte es angeblich Hirschkühe, Rehe und einen kleinen Esel geben; es gab
dort tatsächlich einen kleinen Esel. Wenn man durch die Gärten der Auberge Verticale schlenderte, könne man Miguel Santamayor sehen, einen »Chefkoch voller
Intuition«, der eine »ungewöhnliche Synthese aus Tradition und Futurismus«
erziele; man sah tatsächlich einen Typen, der ein wenig wie ein Guru wirkte und
sich in der Küche zu schaffen machte, ehe er nach seiner »Symphonie der Gemüse
und der Jahreszeiten« persönlich auftauchte, um eine seiner Havannas aus Leidenschaft anzubieten.
    Sie verbrachten ihr letztes
Wochenende, inzwischen war es Pfingsten, im Château
du Vault-de-Lugny , einem exklusiven Luxushotel , dessen
prunkvolle Zimmer auf einen Park von vierzig Hektar hinausgingen, dessen
ursprünglicher Plan Le Nôtre zugeschrieben wurde.

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