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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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betrachtete
Jed mit einer Mischung aus Missbilligung und Melancholie. »Wissen Sie«, sagte
er schließlich, »Olga hat Sie geliebt.«
    Jed sank auf seinem Stuhl leicht
zusammen. »Ich meine«, fuhr Beigbeder fort, »sie hat Sie wirklich geliebt.« Er
verstummte und betrachtete Jed mit ungläubigem Kopfschütteln. »Und Sie haben
sie nach Russland zurückgehen lassen … Und Sie haben sich nie wieder gemeldet …
Liebe … Liebe ist etwas Seltenes . Wussten Sie das nicht? Hat man Ihnen das nie gesagt?
    Ich erzähle Ihnen das, obwohl es mich
natürlich gar nichts angeht«, fuhr er fort, »weil sie bald nach Frankreich
zurückkommt. Ich habe noch Freunde beim Fernsehen, und ich weiß, dass Michelin
einen neuen Kanal für das digitale Kabelfernsehen schaffen will, Michelin TV , der sich auf Gastronomie, regionale Gebräuche,
Kulturdenkmäler, französische Landschaften und so weiter spezialisiert. Olga
soll diesen Sender leiten. Also gut, offiziell ist Jean-Pierre Pernaut ihr
Chef, aber in der Praxis kann sie den Inhalt der Programme bestimmen. Das ist
der Stand der Dinge«, erklärte er in einem Tonfall, der eindeutig besagte, dass
das Gespräch beendet war. »Sie sind gekommen, um mich um einen kleinen Gefallen
zu bitten, und letztlich habe ich Ihnen einen großen Dienst erwiesen.«
    Er warf Jed einen scharfen Blick zu,
während dieser aufstand, um zu gehen. »Es sei denn, Sie sind der Ansicht, dass
Ihre Ausstellung das Wichtigste ist …« Er schüttelte wieder den Kopf und fügte
murmelnd mit kaum hörbarer Stimme angewidert hinzu: »Diese Scheißkünstler …«

II
    D AS S USHI W AREHOUSE im Terminal Roissy 2 E verfügte über ein ungewöhnlich
reichhaltiges Angebot an norwegischen Mineralwassern. Jed entschied sich für
Husqvarna, ein Wasser aus Mittelnorwegen, das sich durch sehr zartes Prickeln
auszeichnete. Es war außerordentlich rein – wenngleich in Wirklichkeit auch
nicht reiner als die anderen. All diese Mineralwasser unterschieden sich nur
durch eine geringe Abweichung im Prickeln und in der Geschmacksempfindung auf
der Zunge, keines von ihnen war irgendwie salzig oder eisenhaltig, die
gemeinsame Eigenschaft der norwegischen Mineralwasser schien ihr maßvoller
Charakter zu sein. Stille Genießer, diese Norweger, sagte sich Jed, während er
seine Flasche Husqvarna bezahlte; es war doch angenehm, sagte er sich weiter,
dass es noch so viele unterschiedliche Formen der Reinheit gab.
    Die Wolkendecke war bald erreicht
und damit auch die Leere, die eine Flugreise über den Wolken charakterisiert.
Auf halber Strecke sah er kurz die unendlich weite, gekräuselte
Meeresoberfläche, die wie die gefurchte Haut eines Greises in der letzten
Lebensphase wirkte.
    Der Flughafen Shannon dagegen
bezauberte Jed wegen der klaren, rechteckigen Formen, der großen Deckenhöhe und
den erstaunlichen Dimensionen der Gänge – er war wenig ausgelastet und diente
fast nur noch den Billigfluggesellschaften und der amerikanischen Armee für
ihre Truppentransporte, obwohl er ganz offensichtlich auf einen fünfmal so
starken Flugverkehr angelegt war. Die Struktur aus Stahlträgern und die
kurzfaserigen Teppichböden deuteten darauf hin, dass er wohl Anfang der
sechziger oder Ende der fünfziger Jahre erbaut worden war. Noch stärker als der
Flughafen Orly erinnerte er an eine Zeit, in der die Technik eine begeisterte
Resonanz gefunden und der Flugverkehr einen der prestigeträchtigsten
Wegbereiter der technischen Neuerungen dargestellt hatte. Seit Beginn der siebziger
Jahre wurde die Flugreise nach den ersten palästinensischen Attentaten – die
Al-Qaida später auf spektakuläre und professionellere Weise fortsetzte – zu
einer infantilisierenden Erfahrung, die an Polizeistaatmethoden erinnerte und
die man so schnell wie möglich hinter sich zu bringen suchte. Aber in jenen
Jahren, sagte sich Jed, während er in der riesigen Ankunftshalle auf seinen
Koffer wartete – die schweren Kofferkulis aus massivem Metall stammten
vermutlich auch noch aus jener Zeit –, in den erstaunlichen Jahren des Wirtschaftswunders war die
Flugreise, das Symbol des modernen technologischen Abenteuers, noch etwas ganz
anderes gewesen. Das Flugzeug, das damals noch Ingenieuren und Führungskräften vorbehalten
gewesen war, also den Schöpfern der Welt von morgen, hatte seine Bestimmung
darin gehabt – und angesichts des Siegeszugs der Sozialdemokratie hatte niemand
daran gezweifelt, dass es so kommen würde –, als Transportmittel mehr und

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