Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
vermutlich baldiges Verschwinden
zu beklagen, sondern schlicht weil sie tatsächlich bald verschwinden würden und
es daher wichtig war, ihr Bild noch rechtzeitig auf der Leinwand festzuhalten.
Schon in seinem dritten Gemälde aus der Serie der Berufe mit dem Titel Maya Dubois,
Fernwartungsassistentin sollte er sich
einer Branche zuwenden, die weder vom Aussterben bedroht noch altmodisch , sondern im
Gegenteil emblematisch für das Just-in-Time-Management war, das den gesamten wirtschaftlichen Strukturwandel
in Westeuropa zur Zeit der Wende ins dritte Jahrtausend bestimmt hatte.
In der ersten Jed Martin gewidmeten
Monographie entwickelt Wong Fu Xin eine seltsame, auf der Kolorimetrie
beruhende Analogie. Die Farben aller Dinge können mittels einer gewissen Anzahl
von Primärfarben wiedergegeben werden; die Mindestanzahl, um eine relativ
realistische Wiedergabe zu erhalten, ist dabei drei. Aber man kann
selbstverständlich eine kolorimetrische Skala auf der Grundlage von vier, fünf,
sechs oder noch mehr Primärfarben aufbauen, das Spektrum der Wiedergabe wird
dadurch noch breiter und subtiler.
Auf die gleiche Weise, behauptet der
chinesische Essayist, können die Produktionsbedingungen einer gegebenen
Gesellschaft mit Hilfe einer gewissen Anzahl typischer Berufe rekonstruiert
werden, die ihm zufolge zwischen zehn und zwanzig liegt. (Er liefert jedoch
keinerlei Begründung für diese Anzahl.) In dem zahlenmäßig bedeutendsten Teil
der Serie der Berufe , jenem Teil, den die Kunsthistoriker gemeinhin die Serie einfacher Berufe nennen, stellt Jed Martin nicht weniger als zweiundvierzig typische Berufe vor
und bietet damit für die Untersuchung der Produktionsbedingungen der
Gesellschaft seiner Zeit ein äußerst reiches, breites Analysespektrum an. Die
folgenden zweiundzwanzig Gemälde, die Konfrontationen oder Begegnungen zum
Gegenstand haben und traditionellerweise als Serie
der Unternehmenskompositionen bezeichnet
werden, zielen darauf ab, ein rationales, dialektisches Bild von den
Mechanismen der Wirtschaft in ihrer Gesamtheit zu liefern.
Für die Realisierung der Gemälde
der Serie einfacher Berufe brauchte Jed Martin etwas über sieben Jahre. In dieser
Zeit sah er kaum jemanden und knüpfte keine neuen Beziehungen – weder
Liebesbeziehungen noch solche rein freundschaftlicher Art. Er erlebte Momente
sinnlichen Glücks: eine wahre Nudelorgie, nachdem er im Casino-Supermarkt am
Boulevard Vincent-Auriol bei den italienischen Produkten kräftig zugeschlagen
hatte; den einen oder anderen Abend mit einem libanesischen Escort Girl, dessen
sexuelle Leistungen durchaus die Lobeshymnen rechtfertigten, die ihm auf der
Website Niamodel.com gewidmet waren: »Layla, ich liebe dich, du bist die Sonne meiner Bürotage,
mein kleiner orientalischer Stern«, schrieben die unglücklichen Männer um die
fünfzig, während Layla ihrerseits von muskulösen, virilen Männern träumte, die
arm und stark waren, aber so ist nun mal das Leben, so geht es darin zu. Jed,
der sehr leicht als ein »etwas seltsamer, aber netter, völlig ungefährlicher
Typ« zu erkennen war, kam bei Layla in den Genuss jenes Ausnahmestatus , den die Mädels den Künstlern seit
jeher einräumen. In einem seiner rührendsten Gemälde mit dem Titel Aimée, Escort Girl wird Layla
vielleicht ein wenig evoziert, mit größerer Sicherheit aber Geneviève, seine
ehemalige madagassische Freundin, und zwar unter Verwendung einer
außerordentlich warmen Farbpalette auf der Grundlage von Umbrabraun,
Indischorange und Neapelgelb. In diametralem Gegensatz zu Toulouse-Lautrecs Darstellung
einer stark geschminkten, bleichsüchtigen Prostituierten von ungesundem
Aussehen malt Jed Martin eine so sinnliche wie kluge, voll erblühte junge Frau
in einer modernen, lichtdurchfluteten Wohnung. Mit dem Rücken vor dem offenen Fenster
stehend, durch das man einen Park sieht, der als der Square des Batignolles
identifiziert wurde, und nur mit einem hautengen weißen Minirock bekleidet,
streift Aimée ein winziges orangegelbes Top über, das nur einen kleinen Teil
ihres prächtigen Busens bedeckt.
Es ist Martins einziges erotisches
Gemälde und zugleich das erste, das eindeutig autobiographische Anspielungen
erkennen lässt. Das zweite, Der Architekt Jean-Pierre
Martin gibt die Leitung seines Unternehmens ab , entstand zwei Jahre später und kennzeichnet den Beginn einer geradezu
frenetischen schöpferischen Periode, die eineinhalb Jahre dauern sollte und mit
dem Bild Bill Gates und
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