Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
hatte.
»Sie können mein Haus sehr leicht
erkennen, es hat den ungepflegtesten Rasen der ganzen Umgebung«, hatte
Houellebecq zu ihm gesagt. »Und vielleicht sogar ganz Irlands«, hatte er hinzugefügt.
Im ersten Augenblick hatte Jed das für eine Übertreibung gehalten, aber der
Pflanzenwuchs erreichte tatsächlich erstaunliche Ausmaße. Er schlug einen mit
Steinplatten gepflasterten schmalen Weg ein, der sich auf gut zehn Metern zwischen
Distelsträuchern und Brombeergestrüpp bis zu einem geteerten Vorplatz
schlängelte, auf dem ein SUV parkte, ein Lexus RX 350. Wie zu erwarten, hatte sich Houellebecq für einen
Bungalow entschieden: Es war ein großer, weißer Neubau mit einem Schieferdach –
ein im Grunde völlig gewöhnliches Haus, bis auf den abstoßenden Zustand des
Rasens.
Jed klingelte und wartete etwa dreißig
Sekunden, bis ihm der Autor der Elementarteilchen in Pantoffeln, einer Cordhose und einer bequemen
Strickjacke aus ungebleichter Wolle die Tür öffnete. Er betrachtete Jed lange
und nachdenklich, ehe er den Blick mit einem finsteren Grübeln, das er sich
anscheinend zur Gewohnheit gemacht hatte, auf den Rasen richtete.
»Ich kann mit Rasenmähern nicht
umgehen«, erklärte er. »Ich habe Angst, dass mir die Messer die Finger
abschneiden, das soll angeblich sehr oft vorkommen. Ich könnte mir ein Schaf
halten, aber ich mag keine Schafe. Es gibt nichts Blöderes als Schafe.«
Jed folgte ihm in die mit Steinplatten
ausgelegten Räume, in denen sich keine Möbel befanden, nur hier und da ein paar
Umzugskartons. Die tapezierten Wände waren von einfarbigem, nicht ganz reinem
Weiß, den Boden bedeckte eine dünne Staubschicht. Das Haus war sehr groß, es
hatte sicher mindestens fünf Zimmer. Drinnen war es nicht sehr warm, höchstens
sechzehn Grad; Jed vermutete, dass alle Zimmer, mit Ausnahme von Houellebecqs
Schlafzimmer, leerstanden.
»Sind Sie gerade hier eingezogen?«
»Ja. Na gut, drei Jahre sind es
inzwischen.«
Schließlich gelangten sie in einen
quadratischen Raum, der ein bisschen gemütlicher war, eine Art Wintergarten mit
dreiseitiger Verglasung, den die Engländer ein conservatory nennen. Er war mit einem Sofa, einem niedrigen Tisch
und einem Sessel eingerichtet, auf dem Boden lag ein billiger orientalischer
Teppich. Jed hatte zwei Mappen im Format DIN A3 mitgebracht; die erste enthielt etwa vierzig Fotos,
die seine früheren Werke dokumentierten – im Wesentlichen Auszüge aus seiner
Serie Eisenwaren und aus seiner Periode Straßenkarten . Die zweite Mappe enthielt vierundsechzig Fotos aller
seiner Gemälde, von Ferdinand Desroches,
Pferdemetzger bis zu Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der
Informatik .
»Mögen Sie Wurst?«, fragte der
Schriftsteller.
»Ja … Ich habe jedenfalls nichts
dagegen.«
»Ich koche uns einen Kaffee.«
Er sprang auf und kam etwa zehn
Minuten später mit einer Espressokanne und zwei Tassen wieder.
»Ich habe weder Milch noch Zucker«,
verkündete er.
»Das macht nichts. Ich trinke ihn gern
schwarz.«
Der Kaffee war gut. Es entstand ein
tiefes Schweigen, das sich zwei oder drei Minuten hinzog.
»Ich habe früher gern Wurst gegessen«,
sagte Houellebecq schließlich, »aber ich habe beschlossen, darauf zu
verzichten. Wissen Sie, ich finde, der Mensch hat nicht das Recht, Schweine zu
töten. Ich habe Ihnen schon gesagt, was ich von Schafen halte, und ich bleibe
bei meinem Urteil. Selbst Rinder, und in diesem Punkt bin ich nicht mit meinem
Freund Benoît Duteurtre einverstanden, scheinen mir etwas überzüchtet zu sein.
Aber das Schwein ist ein bewundernswertes Tier, es ist intelligent und
empfindsam und entwickelt eine aufrichtige, ausschließliche Liebe zu seinem
Herrn. Und seine Intelligenz kann einen wirklich überraschen, man kennt nicht
einmal ihre genauen Grenzen. Wissen Sie, dass man Schweinen beigebracht hat,
einfache Rechenvorgänge zu beherrschen? Jedenfalls zumindest die Addition, und
ich glaube, einigen besonders begabten Versuchstieren sogar die Substraktion.
Hat der Mensch das Recht, ein Tier zu opfern, das imstande ist, sich die grundlegenden
Rechenoperationen anzueignen? Das glaube ich ehrlich gesagt nicht.«
Ohne eine Antwort abzuwarten,
vertiefte er sich in die Betrachtung von Jeds erster Mappe. Nachdem er sich
rasch die Fotos von Schrauben und Muttern angesehen hatte, verharrte er eine
Weile, die Jed unendlich lang vorkam, bei der fotografischen Wiedergabe der
Straßenkarten; ab und zu blätterte er eine
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