Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Seite um, ohne einem erkennbaren
Rhythmus zu folgen. Jed warf einen diskreten Blick auf seine Armbanduhr: Seit
seiner Ankunft war bereits mehr als eine Stunde vergangen. Es herrschte
absolute Stille; dann ließ sich in der Ferne das tiefe Brummen eines
Kühlschrankkompressors vernehmen.
»Das sind alte Arbeiten«, wagte Jed
schließlich zu bemerken. »Ich habe sie nur mitgebracht, um Ihnen zu zeigen, in
welchem Rahmen sich meine Arbeit bewegt. Die Ausstellung … hat nur den Inhalt
der zweiten Mappe zum Gegenstand.«
Houellebecq sah mit leerem Blick zu
ihm auf, er schien vergessen zu haben, was Jed bei ihm machte, was der Grund
für seine Anwesenheit war; dennoch schlug er gehorsam die zweite Mappe auf. Es
verging noch eine weitere halbe Stunde, ehe er sie abrupt zuschlug und sich
eine Zigarette anzündete. Jed fiel plötzlich auf, dass Houellebecq während der
ganzen Zeit, in der er seine Fotos betrachtet hatte, nicht geraucht hatte.
»Ich bin einverstanden«, sagte er.
»Wissen Sie, ich habe so etwas noch nie gemacht, aber ich wusste, dass das
irgendwann in meinem Leben auf mich zukommen würde. Viele Schriftsteller haben,
wenn man es genauer betrachtet, Texte über Maler geschrieben, und zwar schon
seit Jahrhunderten. Das ist erstaunlich. Aber eine Frage hat mich trotzdem die ganze
Zeit beschäftigt, während ich Ihre Arbeiten angesehen habe: Warum haben Sie die
Fotografie aufgegeben? Warum haben Sie sich der Malerei zugewandt?«
Jed dachte lange nach, ehe er
antwortete. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das selbst weiß«, gestand er
schließlich. »Aber das Problem in der bildenden Kunst, so scheint mir«, fuhr er
zögernd fort, »liegt in der Fülle der Themen. Ich könnte zum Beispiel diesen
Heizkörper durchaus als Sujet für ein brauchbares Gemälde erwägen.« Houellebecq
wandte sich rasch um und warf einen argwöhnischen Blick auf den Heizkörper, als
könne dieser bei der Vorstellung, gemalt zu werden, in Jubel ausbrechen; doch
nichts dergleichen geschah.
»Ich weiß nicht, ob Sie mit diesem
Heizkörper auf literarischem Gebiet etwas anfangen könnten«, sagte Jed
nachdrücklich. »Oder doch, wenn ich an Robbe-Grillet denke, der hätte den
Heizkörper einfach beschrieben … Aber ich weiß nicht, das finde ich nicht sonderlich
interessant …« Er verstrickte sich in Widersprüche, war sich bewusst, dass
seine Worte konfus und möglicherweise etwas unbeholfen waren, woher sollte er schon
wissen, ob Houellebecq Robbe-Grillet mochte oder nicht, aber vor allem fragte
er sich ein wenig ängstlich, warum er bloß auf die Malerei zu sprechen gekommen
war, die ihn noch immer, nach mehrjähriger Praxis, vor unüberwindbare
technische Probleme stellte, wohingegen er die Prinzipien der Fotografie und
den Umgang mit Kameras perfekt beherrschte.
»Lassen Sie uns Robbe-Grillet
vergessen«, erklärte sein Gesprächspartner zu seiner großen Erleichterung.
»Aber mit diesem Heizkörper könnte man vielleicht trotzdem etwas anfangen … Zum
Beispiel: Ich glaube im Internet gelesen zu haben, dass Ihr Vater Architekt ist
…«
»Ja, das stimmt. Ich habe ihn auf
einem meiner Bilder dargestellt, und zwar am Tag, an dem er die Leitung seines
Unternehmens abgegeben hat.«
»Die Leute kaufen diese Art von
Heizkörpern selten für den individuellen Gebrauch. Die Kunden sind im
Allgemeinen Baufirmen wie jene, die Ihr Vater geleitet hat, und sie kaufen dann
Dutzende oder Hunderte solcher Heizkörper. Man könnte sich sehr gut einen
Thriller vorstellen, der einen großen Auftrag für Tausende von Heizkörpern zum
Thema hat – um zum Beispiel alle Klassenräume eines Landes auszurüsten –, mit
Schmiergeldern, dem Eingreifen von Politikern und einer äußerst attraktiven
Handelsvertreterin einer rumänischen Heizungsfirma. In diesem Rahmen wäre eine
lange, mehrseitige Beschreibung dieses Heizkörpers sowie jene von Modellen der
Konkurrenz durchaus gerechtfertigt.«
Er sprach jetzt sehr schnell, zündete
sich eine Zigarette nach der anderen an, er erweckte den Eindruck, als rauche
er, um sich zu beruhigen und sein Gehirn etwas langsamer arbeiten zu lassen.
Jed dachte flüchtig daran, dass sein Vater, angesichts des Betätigungsfelds
seines Architekturbüros, eher dazu geneigt hätte, Klimaanlagen in großer
Stückzahl zu kaufen; vermutlich hatte er das auch getan.
»Diese Heizkörper sind aus Gusseisen«,
fuhr Houellebecq lebhaft fort, »vermutlich aus grauem Gusseisen mit hohem Kohlenstoffgehalt,
dessen Gefahren in
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