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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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den unteren Bevölkerungsschichten zugänglich zu werden, sobald ihre Kaufkraft und ihre Freizeit zunehmen würden (was
letztlich auch tatsächlich eintrat, aber erst auf dem Umweg über den Ultraliberalismus,
der in adäquater Weise von den Billigfluggesellschaften symbolisiert wird, und
nur um den Preis eines totalen Verlusts des früher mit Flugreisen verbundenen
Prestiges).
    Ein paar Minuten später erhielt Jed
die Bestätigung für seine Hypothese über das Alter des Flughafens. Der lange
Flur, der zum Ausgang führte, war mit Fotos bedeutender Persönlichkeiten
geschmückt, die den Flughafen mit ihrem Besuch beehrt hatten – hauptsächlich
von Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und Päpsten. Johannes Paul II ., Jimmy Carter,
Johannes XXIII ., George Bush I . und II ., Paul VI ., Ronald Reagan … keiner fehlte. Als Jed am Ende des
Flurs ankam, stellte er überrascht fest, dass der erste dieser berühmten
Besucher nicht durch ein Foto verewigt worden war, sondern sage und schreibe
durch ein Gemälde.
    John Fitzgerald Kennedy stand auf dem
Rollfeld in einem gewissen Abstand vor einer Gruppe von Persönlichkeiten – unter
denen man die Anwesenheit zweier Geistlicher bemerken konnte. Die Männer im
Trenchcoat, die sich im Hintergrund hielten, waren vermutlich amerikanische
Sicherheitsbeamte. Mit nach oben ausgestrecktem Arm – in Richtung der hinter
der Absperrung versammelten Menge, wie sich denken ließ – lächelte Kennedy mit
jener Mischung aus dümmlicher Begeisterung und idiotischem Optimismus, die
Nicht-Amerikaner kaum nachzuahmen imstande sind. Sein Gesicht wirkte
allerdings, als sei es mit Botox behandelt worden. Jed machte kehrt und
betrachtete noch einmal aufmerksam die ganze Bildergalerie bedeutender
Persönlichkeiten. Bill Clinton war ebenso beleibt und hatte ebenso glatte Züge
wie sein berühmtester Vorgänger; die aus den Reihen der demokratischen Partei
hervorgegangenen amerikanischen Präsidenten, das musste man einfach zugeben,
wirkten im Allgemeinen wie mit Botox behandelte Lüstlinge.
    Als Jed zum Porträt von Kennedy
zurückkehrte, gelangte er jedoch zu einer anderen Schlussfolgerung. Da es Botox
damals noch nicht gegeben hatte, war in jenen Jahren das Glätten von aufgeschwemmten
Gesichtszügen und Falten, das man heute mit transkutanen Injektionen erzielt,
durch den Pinsel eines nachsichtigen Künstlers bewirkt worden. Gegen Ende der
fünfziger und ganz zu Beginn der sechziger Jahre muss es also noch vorstellbar
gewesen sein, die Aufgabe, die wichtigsten Momente einer Regierungszeit zu
veranschaulichen und zu verherrlichen, einem Künstler anzuvertrauen – zumindest
den mittelmäßigsten unter ihnen. Es handelte sich hier ohne jeden Zweifel um
einen Schinken ,
man brauchte nur die Gestaltung des Himmels mit dem zu vergleichen, was Turner
oder Constable gemacht hätten, selbst zweitrangige englische Aquarellmaler
verstanden das besser. Dennoch kam in diesem Gemälde eine Art menschliche,
symbolische Wahrheit, John Fitzgerald Kennedy betreffend, zum Ausdruck, die
kein einziges Foto der Galerie erfasst hatte – nicht einmal das Foto von
Johannes Paul II ., das ihn auf der Gangway zum Flugzeug zeigte, als er, offensichtlich in
bester Verfassung, die Arme weit öffnete, um eine der letzten katholischen
Bevölkerungen Europas zu grüßen.
    Auch das Hotel Oakwood Arms
entlehnte seine Dekoration jenen Pionierzeiten der Verkehrsluftfahrt: alte
Werbeplakate für Air France oder die Lufthansa, Schwarzweißfotos einer Douglas DC -8 oder einer
Caravelle, die am klaren Himmel aufstiegen, Fotos von Flugkapitänen in voller
Uniform, die stolz im Cockpit posierten. Die Stadt Shannon verdankte ihre
Entstehung, wie Jed im Internet erfahren hatte, dem Flughafen. Sie war in den
sechziger Jahren an einer Stelle errichtet worden, an der sich nie zuvor eine
Siedlung oder ein Dorf befunden hatte. Die irische Architektur hatte, nach dem
zu urteilen, was er gesehen hatte, keinerlei spezifischen Charakter: Es war
eine Mischung aus kleinen roten Backsteinhäusern, wie man sie in den englischen
Vorstädten finden konnte, und großen weißen Bungalows, die nach amerikanischer
Art einen geteerten Vorplatz hatten und von Rasenflächen gesäumt waren.
    Er rechnete mehr oder weniger damit,
Houellebecq eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen zu müssen, sie
hatten bisher nur per E-Mail korrespondiert und gegen Ende per SMS ; doch dieser meldete
sich, nachdem es ein paar Mal geklingelt

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