Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
nicht gar engstirniger Geist, gewiss nicht
mehr als die Erwähnung einer interessanten, aber rein anekdotischen Tatsache
sah, sollte Patrick Kéchichian dazu veranlassen, einen feurigen Artikel
aufzusetzen, der mystischer war denn je: Nachdem er uns einen Gott gezeigt hat,
der an der Seite des Menschen an der Schöpfung der Welt teilhat, so schreibt
er, vollzieht der Künstler nun endgültig den Übergang zur Fleischwerdung und
zeigt uns einen Gott, der sich unter die Menschen begeben hat. Weit entfernt
von der Harmonie der Himmelssphären, ist Gott jetzt gekommen, um »sich die
Ärmel hochzukrempeln und Hand ans Werk zu legen«, damit durch seine allmächtige
Gegenwart der heiligen Würde der menschlichen Arbeit Ehre erwiesen wird. Er
selbst, wahrer Mensch und wahrer Gott, ist gekommen, um der arbeitenden
Menschheit das Opfer seiner heißen Liebe darzubringen. Wer erkennt in dem
Verhalten des linken Mechanikers, der seinen Arbeitsplatz verlässt, um dem
Ingenieur Ferdinand Piëch zu folgen, so Kéchichian, nicht Petrus’ Verhalten wieder,
der seine Netze zurücklässt, als Christus zu ihm sagt: »Fürchte dich nicht,
denn von nun an wirst du Menschen fangen«? Und noch im Fehlen des Bugatti
Veyron 16.4 im fertigen Zustand sieht Kéchichian einen Bezug zum Neuen
Jerusalem.
Sein Artikel war von Le Monde abgelehnt worden –
Pépita Bourguignon, die das Feuilleton leitete, hatte mit ihrem Rücktritt
gedroht, falls die Zeitung diese »bigotte Kulturscheiße« veröffentlichen würde –, aber er sollte im darauffolgenden Monat in Art
Press erscheinen.
»Die Presse kann uns in diesem Stadium
scheißegal sein. Auf dieser Ebene spielt sich die Sache sowieso nicht mehr ab«,
fasste Marilyn am Ende des Abends die Situation zusammen, nachdem sich Jed über
Pépita Bourguignons erneute Abwesenheit Sorgen gemacht hatte.
Gegen zweiundzwanzig Uhr, nachdem
die letzten Besucher gegangen waren und die Angestellten des Caterers die
Tischdecken zusammenfalteten, ließ sich Franz auf einen Sitz aus weichem
Plastik neben dem Eingang der Galerie fallen. »Mensch, ich bin total erledigt«,
sagte er. »Total erledigt.« Er hatte sich völlig verausgabt und unermüdlich all
denen, die sich dafür interessierten, Jeds künstlerischen Werdegang oder die
Geschichte seiner Galerie erzählt, er hatte den ganzen Abend ununterbrochen
geredet; Jed dagegen hatte sich damit begnügt, hin und wieder zu nicken.
»Kannst du mir bitte ein Bier holen?
Aus dem Kühlschrank im Abstellraum.«
Jed kam mit einem Sechserpack Stella
Artois zurück. Franz leerte eine ganze Flasche in einem Zug, ehe er wieder das
Wort ergriff.
»Okay, jetzt brauchen wir nur noch auf
die Angebote zu warten«, sagte er zusammenfassend. »In einer Woche treffen wir
uns wieder, um zu sehen, wie der Stand der Dinge ist.«
IX
A LS J ED AUF DEM V ORPLATZ von Notre-Dame de la Gare ankam, ging plötzlich, wie
zur Warnung, ein eisiger Nieselschauer nieder, der nach wenigen Sekunden ebenso
plötzlich wieder aufhörte. Er lief die wenigen Stufen hinauf, die zum Eingang
der Kirche führten. Die beiden Flügel der Tür waren wie immer weit geöffnet,
das Innere wirkte menschenleer. Er zögerte, dann machte er kehrt. Die Rue
Jeanne-d’Arc mündete in den Boulevard Vincent-Auriol, über den die überirdische
Metro führte; in der Ferne war die Kuppel des Pantheon zu sehen. Der Himmel
hatte eine stumpfe dunkelgraue Farbe. Im Grunde hatte Jed Gott nicht viel zu
sagen, zumindest nicht in diesem Moment.
Die Place Nationale war menschenleer,
und hinter den blätterlosen Bäumen konnte man die rechteckigen, ineinander
verschachtelten Strukturelemente der Universität Tolbiac erkennen. Jed bog in
die Rue du Château-des-Rentiers ein. Er traf etwas zu früh ein, aber Franz saß
schon im Bistro vor einem Glas mit billigem Rotwein, und es war offensichtlich
nicht das erste. Mit seinem zerzausten Haar und den vom Alkohol geröteten
Wangen sah er aus, als habe er seit Wochen nicht geschlafen.
»Also«, sagte er, sobald sich Jed
gesetzt hatte, »ich habe inzwischen Angebote für fast alle Bilder bekommen. Ich
habe die Preise in die Höhe getrieben, ich kann sie vielleicht noch etwas höher
treiben, auf jeden Fall liegt der durchschnittliche Preis im Moment bei etwa
fünfhunderttausend Euro.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört:
fünfhunderttausend Euro.«
Franz spielte nervös mit den Strähnen
seines ungekämmten weißen Haars; es war das erste Mal, dass Jed diesen Tick bei
ihm
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