Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Abend der Vernissage eine potentielle Konkurrenzsituation entsteht«, fuhr
sie fort. »Es ist eine kleine Welt, sie kennen sich alle, sie fangen bestimmt
schon an, Berechnungen zu machen und sich Preise vorzustellen. Dafür braucht
man natürlich mindestens zwei Personen. Und hier …« Über ihr Gesicht ging ein
charmantes, verschmitztes Lächeln, sodass sie plötzlich wie ein sehr junges
Mädchen wirkte, was Jed überraschte. »Hier sind drei … Siehst du den Typen da
hinten, vor dem Bugatti-Bild?« Sie zeigte auf einen alten Mann mit einem
erschöpften, leicht angeschwollenen Gesicht und einem kleinen grauen
Schnurrbart; der Mann trug einen schlecht geschnittenen schwarzen Anzug. »Das
ist Carlos Slim Helú. Ein Mexikaner libanesischer Herkunft. Er macht nicht viel
her, das weiß ich wohl, aber er hat unheimlich viel Geld in der
Telekommunikationsbranche verdient: Den Schätzungen zufolge ist er der dritt-
oder viertreichste Mann der Welt. Und er ist Kunstsammler …«
Was Marilyn mit dem Namen
»Bugatti-Bild« bezeichnete, war in Wirklichkeit das Gemälde Der Ingenieur Ferdinand Piëch besucht das Werksgelände in Molsheim , wo tatsächlich der Bugatti Veyron 16.4 hergestellt
wurde, das schnellste – und teuerste – Auto der Welt. Mit seinem
Sechzehn-Zylinder-Motor in Doppel-V-Form mit 1001 PS und vier Turboladern
war er in der Lage, in 2,5 Sekunden von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen,
und erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 407 km/h. Kein auf dem
Markt befindlicher Reifen war imstande, solchen Beschleunigungen standzuhalten,
daher musste Michelin für diesen Wagen Hochgeschwindigkeitsreifen entwickeln.
Slim Helú verharrte mindestens fünf
Minuten vor diesem Bild, rührte sich kaum von der Stelle, bewegte sich
höchstens dann und wann ein paar Zentimeter nach vorn oder nach hinten. Er
hatte, wie Jed bemerkte, den idealen Abstand gewählt, um ein Bild von diesem
Format zu betrachten. Er war ganz offensichtlich ein echter Kunstsammler.
Dann wandte sich der mexikanische
Milliardär um und ging zum Ausgang. Er hatte weder jemanden gegrüßt noch mit jemandem
gesprochen. Als der Mann an ihm vorbeikam, warf ihm François Pinault einen
eisigen Blick zu; gegen einen solchen Konkurrenten hatte der bretonische
Geschäftsmann allerdings kaum eine Chance. Ohne den Blick zu erwidern, ging
Slim Helú auf einen schwarzen Mercedes zu, der vor der Galerie parkte, und
setzte sich auf die Rückbank.
Der Abgesandte von Roman Abramowitsch
näherte sich ebenfalls dem »Bugatti-Bild«. Es war tatsächlich ein seltsames
Werk. Wenige Wochen bevor Jed damit begonnen hatte, hatte er auf dem Flohmarkt
von Montreuil für einen lächerlichen Preis – den Preis von Altpapier, nicht
mehr – mehrere Kartons mit alten Nummern der Zeitschriften Peking-Informationen und China im Aufbau erstanden,
deren typographische Gestaltung etwas Weiträumiges und Luftiges hatte, das dem
sozialistischen Realismus chinesischer Prägung nahekam. Die V-Formation der
kleinen Gruppe von Ingenieuren und Mechanikern, die Ferdinand Piëch bei seinem
Besuch des Werksgeländes folgen, erinnerte, wie ein besonders hartnäckiger und gut
informierter Kunsthistoriker später schreiben sollte, sehr stark an die Gruppe
von Agraringenieuren und mittelständischen Bauern, die den Präsidenten Mao
Tse-tung auf einem Aquarell begleiten, das in der Nummer 122 von China im Aufbau abgedruckt
ist und den Titel Vorwärts mit den bewässerten Reisanpflanzungen
in der Provinz Hunan! trägt. Es war übrigens,
wie andere Kunsthistoriker schon seit langem angemerkt hatten, das einzige Mal,
dass Jed sich in der Aquarelltechnik versucht hatte. Der Ingenieur Ferdinand
Piëch, der sich zwei Meter vor der Gruppe befand, schien mehr zu schweben als
zu gehen, als würde er ein paar Zentimeter über dem Boden aus hellem Epoxidharz
levitieren. Drei Arbeitsplätze aus Aluminium empfingen Fahrgestelle des Bugatti
Veyron in verschiedenen Herstellungsstadien, im Hintergrund sah man durch die
vollständig verglasten Wände das Panorama der Vogesen. Aufgrund eines
erstaunlichen Zufalls, so Houellebecq in seinem Vorwort zum Katalog, hatten
sich das Dorf Molsheim und die es umgebende vogesische Landschaft schon im
Mittelpunkt der Fotos befunden – sowohl der Fotos von der Michelinkarte als
auch des Satellitenfotos –, die Jed zehn Jahre zuvor als Aufhänger für seine
erste persönliche Ausstellung gewählt hatte.
Diese einfache Feststellung, in der
Houellebecq, ein rationaler, wenn
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