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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Antwort darauf zu
geben, das ist nicht nötig, ich weiß genau, was du sagen würdest. Du würdest
mich bitten, dir etwas Bedenkzeit zu lassen, und in ein paar Tagen rufst du
mich dann an, um mir zu sagen, dass du
dagegen bist. Und anschließend lässt du alles sausen. Ich kenne dich allmählich
ganz gut, du warst schon immer so, schon zur Zeit der Michelin-Karten: Du
arbeitest jahrelang verbissen in deinem Atelier, in völliger Einsamkeit, und
sobald deine Arbeit ausgestellt ist, sobald die Anerkennung da ist, lässt du
die Sache fallen.«
    »Da gibt es gewisse Unterschiede.
Damals, als ich die Arbeit an Damien Hirst und Jeff
Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf abgebrochen habe, war ich in eine Sackgasse geraten.«
    »Ja, ich weiß; das war sogar der
Grund, weshalb ich die Ausstellung veranstaltet habe. Ich bin im Übrigen froh,
dass du das Bild nicht fertiggestellt hast. Dabei fand ich die Idee sehr gut,
das Vorhaben war historisch äußerst relevant, es war ein durchaus zutreffendes
Zeugnis über die Situation auf dem Kunstmarkt zu einem gegebenen Zeitpunkt. Es
hat tatsächlich so etwas wie eine Zweiteilung gegeben: auf der einen Seite Fun,
Sex, Kitsch und Naivität, auf der anderen Trash, Tod und Zynismus. Aber in
deiner Situation wäre das zwangsläufig als Werk eines zweitrangigen Künstlers
interpretiert worden, der neidisch auf den Erfolg reicherer Kollegen ist. Wir
sind sowieso an einem Punkt angelangt, wo der Markterfolg jeden Mist rechtfertigt,
ihn anerkennt und sämtliche Theorien ersetzt, niemand ist mehr imstande, ein
bisschen weiter zu blicken, absolut niemand. Heute könntest du dir so ein Bild
leisten, du bist inzwischen der am besten bezahlte französische Künstler der
Gegenwart, aber ich weiß, dass du es nicht malen wirst, du wirst zu etwas
anderem übergehen. Oder vielleicht hörst du mit den Porträts ganz einfach auf,
oder du hörst mit der figurativen Malerei ganz allgemein auf oder mit der
Malerei überhaupt, vielleicht wendest du dich ja wieder der Fotografie zu, was
weiß ich.«
    Jed blieb stumm. Am Nebentisch
erwachte der alte Mann aus seinem Schlummer, stand auf und ging zur Tür; sein
Hund folgte ihm mit Mühe, wobei sein dicker Körper auf den kurzen Beinen hin
und her wackelte.
    »Auf jeden Fall«, sagte Franz, »kannst
du sicher sein, dass ich dein Galerist bleibe. Egal, was kommt.«
    Jed signalisierte sein Einverständnis.
Der Wirt kam aus dem Lagerraum zurück, schaltete die Neonbeleuchtung über der Theke
ein und nickte Jed zu. Jed erwiderte das Nicken. Sie waren regelmäßige Gäste,
sogar richtige Stammgäste, aber zwischen dem Wirt und ihnen war es nie zu
wirklicher Vertrautheit gekommen. Der Wirt hatte sogar vergessen, dass er Jed
zehn Jahre zuvor erlaubt hatte, Fotos von ihm und seinem Bistro zu machen, die
Jed zur Verwirklichung seines Gemäldes Claude Vorilhon, Schankwirt angeregt hatten, das zweite Bild der Serie einfacher Berufe – für
das ein amerikanischer Börsenmakler soeben dreihundertfünfzigtausend Euro
geboten hatte. Der Wirt hatte sie immer als untypische Gäste angesehen, die
weder im gleichen Alter wie seine übrigen Gäste waren, noch aus dem gleichen
Milieu stammten wie diese; kurz gesagt, sie gehörten nicht zu seiner Zielgruppe .
    Jed stand auf und fragte sich, wann er
Franz wiedersehen werde, und gleichzeitig wurde ihm mit einem Schlag bewusst,
dass er nun ein reicher Mann war. Kurz bevor er auf die Tür zuging, fragte ihn
Franz: »Was machst du über Weihnachten?«
    »Nichts. Ich besuche meinen Vater, wie
immer.«

X
    N ICHT GANZ WIE IMMER , dachte Jed, während er auf die Place Jeanne-d’Arc
zuging. Sein Vater hatte am Telefon einen völlig deprimierten Eindruck gemacht
und zunächst vorgeschlagen, ihr alljährliches Abendessen abzusagen. »Ich möchte
niemandem zur Last fallen …« Sein Darmkrebs hatte sich ganz plötzlich
verschlimmert, er habe jetzt Stuhlverlust , wie er mit genussvoller Selbstgeißelung verkündet
hatte, man müsse ihm einen künstlichen Darmausgang legen. Als Jed nicht
lockerließ, erklärte er sich schließlich bereit, sich mit ihm zu treffen, aber
nur unter der Bedingung, dass sein Sohn ihn bei sich zu Hause empfing. »Ich
kann die blöden Visagen der Leute nicht mehr ausstehen.«
    Als Jed auf dem Vorplatz von
Notre-Dame de la Gare ankam, zögerte er eine Sekunde, ehe er die Kirche betrat.
Sie erschien ihm zunächst leer, aber als er sich dem Altar näherte, entdeckte
er eine junge Schwarze von höchstens achtzehn

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