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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Jahren, die auf einem Betstuhl
vor einer Marienstatue kniete und mit gefalteten Händen leise Worte flüsterte.
Sie war so sehr ins Gebet vertieft, dass sie Jed gar nicht bemerkte. Ihr Arsch,
der durch das Niederknien stark gewölbt war, zeichnete sich deutlich unter ihrer
hautengen, dünnen, weißen Stoffhose ab, wie Jed unwillkürlich bemerkte. Suchte
sie Vergebung für irgendwelche Sünden? Waren ihre Eltern krank? Vermutlich
beides. Sie schien sehr gläubig zu sein. Es musste ganz schön praktisch sein,
an Gott zu glauben: Wenn man nichts mehr für die anderen tun konnte – und das war
oft im Leben der Fall, das war im Grunde fast immer der Fall, und ganz
besonders bei seinem krebskranken Vater –, blieb noch immer die Möglichkeit, für sie zu beten .
    Er ging beschämt wieder nach draußen.
Die Dunkelheit legte sich über die Rue Jeanne-d’Arc, die roten Rücklichter der
Autos entfernten sich langsam in Richtung Boulevard Vincent-Auriol. In der
Ferne war die Kuppel des Pantheons in unerklärliches grünliches Licht getaucht,
fast so, als planten außerirdische Wesen in einem kugelförmigen Raumschiff
einen massiven Angriff auf die Pariser Gegend. Irgendwo in dieser Stadt starben
vermutlich in dieser Minute Menschen.
    Das hinderte ihn nicht daran, am
nächsten Abend um die gleiche Zeit bunte Kerzen anzuzünden und Jakobsmuscheln
mit überbackenem Lachs auf seine auf Böcken ruhende Tischplatte zu stellen,
während sich die Dunkelheit über die Place des Alpes ausbreitete. Sein Vater
hatte versprochen, um achtzehn Uhr da zu sein.
    Um 18.01 Uhr klingelte er an der
Haustür. Jed öffnete ihm mit Hilfe des Türsummers und atmete mehrmals tief ein
und aus, während der Fahrstuhl herauffuhr.
    Er drückte seinem Vater, der reglos
mitten im Atelier stehen blieb, einen flüchtigen Kuss auf die rauen Wangen.
»Setz dich, setz dich«, sagte er. Sein Vater gehorchte sofort, setzte sich auf
eine Stuhlkante und blickte sich schüchtern um. Er war noch nie hier, schoss es
Jed plötzlich durch den Kopf, er war noch nie in meiner Wohnung. Er musste ihm
auch sagen, dass er seinen Mantel ablegen solle. Sein Vater bemühte sich zu
lächeln, fast wie ein Mann, der zeigen will, dass er einer Amputation tapfer
entgegensieht. Jeds Hände zitterten ein wenig, als er eine Flasche Champagner
öffnen wollte, und fast hätte er die Flasche Weißwein umgestoßen, die er gerade
aus dem Kühlfach genommen hatte; er war schweißgebadet. Sein Vater lächelte
noch immer, aber sein Lächeln war ein wenig maskenhaft. Da saß also ein Mann,
der mit großer Dynamik und manchmal auch Härte ein Unternehmen mit etwa fünfzig
Angestellten geleitet, der Leute entlassen und andere eingestellt hatte, der Verhandlungen
über Verträge geführt hatte, die sich auf Dutzende, manchmal Hunderte von
Millionen Euro beliefen. Aber das Nahen des Todes ruft eine gewisse Demut
hervor, und sein Vater schien vor allem den Wunsch zu haben, niemanden zu
stören, das war anscheinend inzwischen sein einziger Ehrgeiz in dieser Welt.
Jed gelang es, die Flasche Champagner zu öffnen, und er entspannte sich ein
wenig.
    »Ich habe von deinem Erfolg gehört«,
erklärte sein Vater und hob das Glas. »Lass uns darauf anstoßen.«
    Das war ein guter Anfang, sagte sich
Jed sogleich, ein Ansatzpunkt für ein mögliches Gespräch, und er begann über
seine Gemälde zu sprechen, über die Arbeit, die er vor gut zehn Jahren begonnen
hatte, über seinen Wunsch, mit den Mitteln der Malerei die Mechanismen zu
beschreiben, die zum Funktionieren einer Gesellschaft beitragen. Er sprach fast
eine ganze Stunde lang ungezwungen, schenkte sich in regelmäßigen Abständen
Champagner und dann Wein nach, während sie die Gerichte aßen, die er am Tag
zuvor in einem Feinkostladen gekauft hatte, und was er da erzählte, hatte er,
wie ihm am nächsten Tag verwundert klar wurde, noch nie jemandem erzählt. Sein
Vater hörte ihm aufmerksam zu und stellte hier und da eine Frage, er hatte den
erstaunten, neugierigen Gesichtsausdruck eines kleinen Kindes, kurz gesagt,
alles verlief glänzend, bis Jed die Käseplatte servierte, seine Inspiration
allmählich versiegte und sein Vater in schmerzliche Bedrückung verfiel, als
mache sich die Schwerkraft bei ihm besonders stark bemerkbar. Dennoch hatte ihn
das Abendessen ein wenig aufgemuntert, und ohne wirkliche Trauer murmelte er
mit ungläubigem Kopfschütteln halblaut: »Verdammte Scheiße … Einen künstlichen
Darmausgang …
    Weißt du«, sagte er

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