Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
gegensätzliche Facetten des Kapitalismus, die sich ebenso sehr
voneinander unterscheiden wie die Figur eines Bankiers bei Balzac von der eines
Ingenieurs bei Jules Verne. Das Gespräch in Palo Alto , wie Houellebecq zum Abschluss schrieb, sei ein zu
bescheidener Untertitel, Jed Martin hätte sein Gemälde ebenso gut Eine kurze Geschichte des Kapitalismus nennen können; denn das war es tatsächlich.
VIII
N ACH EINIGEM H IN UND H ER wurde die Vernissage schließlich auf den 11. Dezember,
einen Mittwoch, angesetzt – das war Marilyn zufolge der ideale Tag. Die in
großer Eile in einer italienischen Druckerei hergestellten Kataloge trafen
gerade noch rechtzeitig ein. Sie waren sehr elegant, ja geradezu luxuriös –
daran dürfe man nicht sparen, hatte Marilyn entschieden. Franz fügte sich ihr
immer mehr, es war geradezu amüsant; wenn sie telefonierte, folgte er ihr auf
Schritt und Tritt von einem Raum in den anderen wie ein Malteser.
Nachdem sie einen Stapel Kataloge in
der Nähe des Eingangs deponiert und sich vergewissert hatten, dass sämtliche
Gemälde fachgerecht aufgehängt waren, hatten sie bis zur Eröffnung, die für
neunzehn Uhr vorgesehen war, nichts mehr zu tun, und der Galerist begann
sichtbare Zeichen von Nervosität erkennen zu lassen. Über seiner schwarzen
Diesel-Jeans trug er eine seltsame bestickte Bluse, wie man sie von slowakischen
Bäuerinnen kennt. Marilyn überprüfte ganz gelassen ein paar Einzelheiten auf
ihrem Handy und ging, dicht gefolgt von Franz, von einem Bild zum anderen. It’s a game, it’s a million dollar game .
Gegen 18.30 Uhr wurde Jed das Hin- und
Hergerenne seiner beiden Komparsen allmählich leid, und er kündigte an, dass er
einen kleinen Spaziergang machen wolle. »Nur einen kleinen Spaziergang durch
das Viertel, ich gehe ein bisschen um den Block, macht euch keine Sorgen, es
tut gut, ein bisschen zu laufen.«
Seine Worte zeugten von übertriebenem
Optimismus, das wurde ihm klar, sobald er den Boulevard Vincent-Auriol betreten
hatte. Er wurde von Autos bespritzt, die in hohem Tempo an ihm vorbeifuhren, es
war kalt, und es goss in Strömen, das war alles, was man dem Boulevard
Vincent-Auriol an jenem Abend zugestehen konnte. Ein Casino-Supermarkt und eine
Shell-Tankstelle waren die einzigen wahrnehmbaren Energiezentren, die einzigen
sozialen Angebote, die imstande waren, Wünsche, Glück und Freude hervorzurufen.
Diese Orte des Lebens kannte Jed bereits: Er war jahrelang ein regelmäßiger
Kunde des Casino-Supermarkts gewesen, ehe er zum Franprix am Boulevard de
l’Hôpital übergewechselt war. Und auch die Shell-Tankstelle kannte er gut: Er
hatte es so manchen Sonntag sehr geschätzt, sich dort mit Pringles und
Hépar-Flaschen versorgen zu können, aber heute Abend war das überflüssig, denn
es war natürlich ein Cocktail vorgesehen, ein Caterer war damit beauftragt
worden.
Dennoch betrat er inmitten von
Dutzenden anderer Kunden den Verbrauchermarkt und konnte sofort verschiedene
Verbesserungen feststellen. Neben der Bücherabteilung befand sich nun ein
Presseshop mit einem breiten Sortiment an Tageszeitungen und Zeitschriften. Das
Angebot an frischen italienischen Teigwaren war noch umfangreicher geworden,
nichts schien den Siegeszug frischer italienischer Teigwaren aufhalten zu können,
und vor allem die Food-Court-Zone des Geschäfts war um eine herrliche, nagelneue
Selbstbedienungs-Salatbar bereichert worden, in der mindestens fünfzehn
verschiedene Sorten angeboten wurden, von denen manche köstlich zu sein
schienen. Das machte ihm Lust wiederzukommen; das machte ihm höllische Lust
wiederzukommen, wie Houellebecq gesagt hätte, dessen Abwesenheit Jed auf einmal
schmerzlich bedauerte, während er ein paar Frauen mittleren Alters beobachtete,
die vor der Salatbar mit zweifelnder Miene den Kaloriengehalt der angebotenen
Salatspeisen einzuschätzen versuchten. Er wusste, dass der Schriftsteller seine
Vorliebe für große Verbrauchermärkte teilte, die echten Verbrauchermärkte, wie er gern sagte, die er sich
ebenso wie Jed in einer mehr oder weniger utopischen, fernen Zukunft in Form
eines Zusammenschlusses der verschiedenen Kaufhausketten zu einem totalen
Hypermarkt herbeiwünschte, der sämtliche menschlichen Bedürfnisse abdeckte. Wie
schön wäre es doch gewesen, gemeinsam diesen frisch renovierten
Casino-Supermarkt zu besuchen, sich gegenseitig mit dem Ellbogen anzustoßen, um
den anderen auf das Auftauchen neuer Produktsegmente oder eine besonders
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