Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
ein.
»Ich habe Lust, eine Zigarette zu
rauchen«, sagte er. »Hast du welche?«
»Ich rauche nicht.« Jed sprang auf.
»Aber ich kann welche holen. Ich kenne ein Bistro an der Place d’Italie, das
Tabak verkauft und abends lange geöffnet ist. Außerdem …« – er warf einen ungläubigen
Blick auf seine Armbanduhr – »… außerdem ist es erst acht Uhr.«
»Glaubst du, dass es selbst
Heiligabend geöffnet ist?«
»Ich kann’s ja mal versuchen.«
Er zog seinen Mantel an. Als er das
Haus verließ, peitschte ihm heftiger Wind ins Gesicht; Schneeflocken wirbelten
in der eisigen Luft, es mochte wohl zehn Grad unter null sein. Das Bistro an
der Place d’Italie machte gerade zu. Der Wirt ging unwirsch wieder hinter die
Theke.
»Was darf’s sein?«
»Zigaretten.«
»Welche Marke?«
»Ich weiß nicht. Gute Zigaretten.«
Der Mann warf ihm einen gereizten
Blick zu.
»Dunhill! Geben Sie mir ein Päckchen
Dunhill und ein Päckchen Gitanes! Und ein Feuerzeug!«
Sein Vater hatte sich nicht
gerührt, er saß noch immer zusammengesunken auf seinem Stuhl und reagierte
nicht einmal, als er hörte, wie sich die Tür öffnete. Doch er nahm sich eine
Gitane aus dem Päckchen und betrachtete sie neugierig, ehe er sie anzündete.
»Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr geraucht«, bemerkte er. »Aber was
spielt das jetzt schon für eine Rolle?« Er nahm einen Zug, dann einen zweiten.
»Die sind stark«, sagte er. »Das tut gut. In meiner Jugend hat praktisch jeder
geraucht. Bei Arbeitsbesprechungen oder bei Diskussionen im Café haben wir die
ganze Zeit geraucht. Es ist seltsam, wie sich die Zeiten ändern …«
Er trank einen Schluck Cognac, nachdem
sein Sohn die Flasche vor ihn auf den Tisch gestellt hatte, und verstummte
wieder. Durch die Stille hörte Jed das Pfeifen des Windes, das immer heftiger
wurde. Er warf einen Blick aus dem Fenster: Schneeflocken wirbelten in dichtem
Reigen, es war ein richtiges Schneegestöber.
»Ich habe schon immer Architekt werden
wollen, glaube ich«, sagte sein Vater nach einer Weile. »Als ich klein war,
habe ich mich für Tiere interessiert, wie vermutlich alle Kinder. Wenn man mir
die Frage nach der Berufswahl stellte, habe ich darauf geantwortet, ich wolle
später Tierarzt werden, aber ich glaube, dass mich im Grunde die Architektur
schon damals angezogen hat. Mit zehn Jahren, daran erinnere ich mich noch
genau, habe ich versucht, ein Nest für die Schwalben zu bauen, die den Sommer
in unserer Scheune verbrachten. Ich hatte in einer Enzyklopädie Hinweise
darüber gefunden, wie Schwalben ihre Nester bauen, mit Lehmerde und Speichel,
und habe ganze Wochen damit zugebracht …« Seine Stimme zitterte leicht, er
hielt wieder inne, und Jed blickte ihn beunruhigt an; sein Vater trank einen
großen Schluck Cognac, ehe er fortfuhr.
»Aber die Schwalben haben mein Nest
nie benutzt. Nicht ein einziges Mal. Von da an haben sie sogar aufgehört, in
der Scheune zu nisten …« Der alte Mann begann plötzlich zu weinen, Tränen
rannen ihm über die Wangen, es war schrecklich. »Papa …«, sagte Jed völlig
hilflos, »Papa …« Sein Vater schien mit dem Schluchzen gar nicht mehr aufhören
zu wollen.
»Schwalben benutzen nie Nester, die
von Menschenhand gefertigt sind«, setzte Jed schnell hinzu, »das ist undenkbar.
Sie verlassen sogar ihr Nest, wenn ein Mensch es berührt hat, und bauen sich
ein neues.«
»Woher weißt du das?«
»Das habe ich vor einigen Jahren in
einem Buch über Tierverhalten gelesen, als ich für ein Gemälde recherchiert
habe.«
Das stimmte nicht, er hatte nichts
dergleichen gelesen, aber sein Vater wirkte augenblicklich erleichtert und
beruhigte sich sofort. Wenn ich daran denke, sagte sich Jed, dass er diese Last
schon seit mehr als sechzig Jahren auf dem Herzen trägt! Dass sie ihn
vermutlich während seiner gesamten Laufbahn als Architekt begleitet hat!
»Nach dem Abitur habe ich mich an der
École des Beaux-Arts in Paris eingeschrieben. Das hat meine Mutter ein bisschen
beunruhigt, sie hätte es lieber gesehen, wenn ich eine Ingenieurhochschule
besucht hätte, aber dein Großvater hat mich sehr unterstützt. Ich glaube, er
besaß als Fotograf künstlerische Ambitionen, hatte aber nie die Möglichkeit,
etwas anderes zu fotografieren als Hochzeiten und Erstkommunionen.«
Jed hatte noch nie gesehen, dass sich
sein Vater mit etwas anderem beschäftigte als mit Problemen technischer und in
den letzten Jahren immer öfter auch finanzieller Art; die
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