Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
mit einer Stimme,
die einen leichten Alkoholrausch verriet, »in gewisser Weise freue ich mich,
dass deine Mutter nicht mehr lebt. Sie war derart feinsinnig und elegant … Sie
hätte den körperlichen Verfall nie ertragen.«
Jed erstarrte. So, da haben wir es
also, sagte er sich. Jetzt ist es so weit, nach Jahren des Schweigens kommt er
endlich darauf zu sprechen. Aber sein Vater hatte bemerkt, dass sich Jeds
Gesichtsausdruck verändert hatte.
»Ich habe nicht vor, dir heute Abend
zu sagen, warum sich deine Mutter das Leben genommen hat!«, rief er fast
wütend. »Ich kann es dir nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß!« Er
beruhigte sich sogleich wieder und sank in sich zusammen. Jed schwitzte. Es war
vielleicht zu warm, die Heizung ließ sich einfach nicht vernünftig regulieren,
er hatte ständig Angst, dass sie wieder ausfiel. Nachdem er nun viel Geld
hatte, würde er bestimmt umziehen, das tun doch die Leute, wenn sie Geld haben,
sie versuchen ihre Lebensbedingungen zu verbessern, aber wohin sollte er
umziehen? Er hatte keine besonderen Wünsche, was Immobilien betraf. Er würde
hierbleiben, vielleicht die Wohnung renovieren, auf jeden Fall einen neuen
Heizkessel installieren lassen. Er stand auf und drehte unbeholfen an den
Bedienungsknöpfen des Apparats. Sein Vater wiegte den Kopf hin und her, sagte
mit leiser Stimme unverständliche Worte. Jed ging wieder zu ihm. Er hätte ihn
in den Arm nehmen, ihm die Hand auf die Schulter legen müssen oder irgend so
etwas, aber wie sollte er das machen? Das hatte er noch nie getan. »Einen
künstlichen Darmausgang …«, flüsterte sein Vater wieder gedankenverloren.
»Ich weiß, dass sie mit unserem Leben
nicht zufrieden war«, begann er von neuem, »aber ist das etwa ein Grund zu
sterben? Ich war auch nicht mit meinem Leben zufrieden, ich muss dir gestehen,
dass ich mir als Architekt etwas anderes gewünscht hätte, als idiotische
Strandhotels für blöde Touristen zu bauen, und noch dazu im Auftrag von
Bauherren, die zutiefst unredlich und unglaublich vulgär sind. Aber so ist das
eben im Beruf, und hinzu kommt die Gewohnheit … Vermutlich hat sie das Leben
nicht geliebt, das ist alles. Am meisten hat mich schockiert, was mir eine
Nachbarin erzählt hat, die ihr direkt zuvor begegnet war. Deine Mutter kam vom
Einkaufen zurück, hatte sich vermutlich gerade das Gift besorgt – wie sie
darangekommen ist, habe ich übrigens nie erfahren. Diese Frau hat mir also
erzählt, dass deine Mutter sehr glücklich ausgesehen habe, unglaublich
glücklich und begeistert. Sie habe, wie mir die Frau sagte, wirklich den
Ausdruck von jemandem gehabt, der im Begriff ist, in Ferien zu fahren. Sie hat
Zyankali genommen und war bestimmt sofort tot; ich bin mir absolut sicher, dass
sie nicht gelitten hat.«
Dann verstummte er, und die Stille
zog sich lange hin; Jed schlummerte halb ein. Er sah endlose Wiesen vor sich,
deren Gras sich im leichten Wind bewegte, und das Licht eines ewigen Frühlings.
Plötzlich kam er wieder zu sich, sein Vater wiegte noch immer den Kopf hin und
her, murmelte etwas vor sich hin und setzte die unangenehme innere
Auseinandersetzung fort. Jed zögerte, er hatte einen Nachtisch vorgesehen, im Kühlschrank
lag eine Schachtel Profiteroles. Sollte er sie herausholen? Oder sollte er
damit besser warten, um mehr über den Selbstmord seiner Mutter zu erfahren? Er
erinnerte sich im Grunde kaum noch an sie. Vermutlich war das vor allem für
seinen Vater wichtig. Er beschloss daher, mit den Profiteroles noch ein wenig
zu warten.
»Ich bin nie mit einer anderen Frau
zusammen gewesen«, sagte sein Vater mit tonloser Stimme. »Wirklich nie. Ich
habe nicht einmal den Wunsch danach gehabt.« Dann begann er wieder etwas vor
sich hin zu murmeln und den Kopf hin und her zu wiegen. Jed beschloss
daraufhin, die Profiteroles zu holen. Sein Vater blickte sie völlig verblüfft
an, als habe er etwas ganz Neues vor sich, auf das ihn nichts in seinem
bisherigen Leben vorbereitet hatte. Er nahm sich eine, drehte sie zwischen den Fingern
und betrachtete sie äußerst skeptisch, als handele es sich um Hundekot; aber
schließlich steckte er sie dennoch in den Mund.
Es folgten zwei oder drei Minuten
stummer Hektik, in denen er die Profiteroles eine nach der anderen wütend aus
der verzierten, vom Konditor mitgelieferten Schachtel nahm und sie schnell in
den Mund steckte. Dann beruhigte er sich allmählich wieder, und Jed bot ihm
eine Tasse Kaffee an. Sein Vater willigte sofort
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