Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
von einem solchen Verbrechen innerhalb
Frankreichs gehört zu haben.
Als er das Haus verließ, sah er
Ferber, der von seinen Männern umringt war und ihnen Anweisungen gab. Jasselin
war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er die Ankunft der Autos nicht
gehört hatte. Er entdeckte auch einen ihm unbekannten hochgewachsenen Mann in
Anzug und Krawatte – vermutlich der Vertreter des Staatsanwalts aus Montargis.
Jasselin wartete, bis Ferber mit der Verteilung der Aufgaben fertig war, um
noch einmal zu erklären, was er wollte: allgemeine Aufnahmen des Tatorts,
Gesamtansichten.
»Ich fahre nach Paris zurück«, verkündete
er anschließend. »Begleitest du mich, Christian?«
»Ja, ich glaube, alles ist so weit
vorbereitet. Treffen wir uns morgen Vormittag zu einer Besprechung?«
»Nicht zu früh. Gegen Mittag dürfte
reichen.« Er wusste, dass sie bis spät in die Nacht, vermutlich sogar bis zum
Morgengrauen arbeiten würden.
IV
D IE N ACHT BRACH AN , als sie die Auffahrt zur Autobahn A10 erreichten.
Ferber stellte den Tempomat auf 130 km/h ein und fragte seinen Kollegen, ob es
ihn störe, wenn er etwas Musik auflege; Jasselin hatte nichts dagegen.
Vielleicht drückt kein anderes
Musikstück so gut wie die letzten Klavierkompositionen von Franz Liszt das
düstere und zugleich sanfte Gefühl eines alten Mannes aus, dessen Freunde
bereits alle gestorben sind und dessen Leben im Wesentlichen abgeschlossen ist.
Er selbst gehört in gewisser Weise schon der Vergangenheit an, er spürt, wie
auch sein Lebensende immer näher rückt, und betrachtet den Tod wie einen
Bruder, einen Freund, wie das Versprechen, bald in das Geburtshaus heimkehren
zu können. Mitten im Angelus musste Jasselin an seine Jugend und seine Studienjahre
zurückdenken.
Es entbehrte nicht einer gewissen
Ironie, dass Jasselin sein Medizinstudium nach dem zweiten Semester abgebrochen
hatte, weil er das Sezieren und selbst den Anblick von Leichen nicht mehr
ertrug. Das Jurastudium hatte ihn sofort sehr interessiert, und wie fast alle
seine Kommilitonen strebte er den Anwaltsberuf an, aber die Scheidung seiner
Eltern hatte ihn gezwungen umzusatteln. Es war eine Scheidung nach langjähriger
Ehe, er war schon dreiundzwanzig und der einzige Sohn. Bei Scheidungen von
jungen Ehepaaren wird die Härte der Auseinandersetzung durch die Existenz von
Kindern, für die oft beide Elternteile weiterhin gemeinsam sorgen müssen und
die sie trotz allem noch mehr oder weniger lieben, häufig gemildert, aber bei
Scheidungen nach langjähriger Ehe, wo es nur noch um finanzielle Interessen und
Fragen der Besitzaufteilung geht, kommt es zu Kämpfen, deren Grausamkeit keine
Grenzen kennt. Damals war ihm klar geworden, worin der Anwaltsberuf wirklich
bestand, er hatte die Mischung aus Gerissenheit und Faulheit genau ermessen
können, in der sich die Berufspraxis eines Anwalts und ganz besonders die eines
Scheidungsanwalts zusammenfassen ließ. Das Verfahren hatte über zwei Jahre
gedauert, zwei Jahre, in denen der Kampf immer erbitterter wurde – mit dem
Ergebnis, dass sich seine Eltern so abgrundtief hassten, dass sie sich bis zu
ihrem Tod nie wiedersahen und nicht einmal miteinander telefonierten –, und all
das führte zu einem Scheidungsurteil von niederschmetternder Banalität, das
jeder Dummkopf in einer Viertelstunde hätte abfassen können, vorausgesetzt, er
hatte Scheidung für Dummies gelesen. Es war erstaunlich, hatte er sich mehrmals
gesagt, dass in Scheidung lebende Eheleute sich nicht öfter dazu hinreißen
ließen, ihren Ehepartner zu ermorden – entweder persönlich oder mit Hilfe eines
bezahlten Killers. Die Angst vor der Polizei, hatte er schließlich begriffen,
war eindeutig die wahre Grundlage der menschlichen Gesellschaft, und so hatte
er sich gewissermaßen ganz selbstverständlich dem Auswahlverfahren für externe
Bewerber unterzogen, um in den Polizeidienst einzutreten. Er war mit einem
recht guten Dienstgrad eingestellt worden und hatte, da er in Paris ansässig
war, das einjährige Praktikum im Kommissariat des 13. Arrondissements
abgeleistet. Es war eine Ausbildung, die hohe Anforderungen an ihn stellte.
Keiner der Kriminalfälle, die er später zu bearbeiten hatte, übertraf die
komplizierten, undurchdringlichen Vergeltungsakte innerhalb der chinesischen
Mafia, mit denen er zu Beginn seiner Laufbahn konfrontiert worden war.
Unter den Studenten der
Polizeiakademie von Saint-Cyr-au-Mont-d’Or träumten viele – manchmal schon
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