Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
leiden jedoch sehr stark darunter, allein
gelassen zu werden, das muss man beim Kauf eines solchen Hundes bedenken: Bei
jeder Abwesenheit des Gebieters fühlt er sich im Stich gelassen, und dann
bricht für ihn im Nu die Welt zusammen, die Welt mit allem, was sie für ihn an
Struktur und Essenz besitzt; er verfällt in eine tiefe Depression und weigert
sich in den meisten Fällen, Nahrung aufzunehmen, daher kann man nur streng
davon abraten, ihn allein zu lassen, und sei es nur für ein paar Stunden. Das
hatte auch die Universitätsverwaltung schließlich eingesehen, sodass Hélène
Michou zu ihren Kursen mitnehmen durfte, in Ermangelung einer förmlichen
Erlaubnis war das zumindest zu einer Art Gewohnheitsrecht geworden. Er blieb
still in seiner Tragetasche sitzen, und wenn er ab und zu etwas unruhig wurde
und aus der Tasche herauswollte, setzte ihn Hélène zur Freude der Studenten auf
ihr Pult. Dann lief er ein paar Minuten auf dem Pult auf und ab, warf hin und
wieder einen Blick auf sein Frauchen und reagierte manchmal mit einem Gähnen
oder einem kurzen Bellen auf dieses oder jenes Zitat von Schumpeter oder
Keynes; anschließend kehrte er wieder in seine Tragetasche aus Stretchgewebe
zurück. Die Fluggesellschaften dagegen, durch und durch faschistische
Organisationen, weigerten sich, die gleiche Toleranz zu zeigen, und so hatten
die beiden zu ihrem Bedauern alle Pläne für Reisen in ferne Länder aufgeben
müssen. Sie fuhren jeden Sommer im August mit dem Auto weg und beschränkten
sich darauf, Frankreich und die umliegenden Länder zu erkunden. Der Status des
Autos wurde von der Rechtsprechung traditionellerweise dem eines individuellen
Wohnsitzes gleichgesetzt, und so blieb es für Besitzer von Haustieren wie auch für
Raucher einer der letzten Freiräume, eine der letzten Temporären Autonomen Zonen ,
die den Menschen zu Beginn des dritten Jahrtausends geboten wurde.
Es war nicht ihr erster Bologneser;
seinen Vorgänger und Vater, Michel, hatten sie kurz nach dem Zeitpunkt gekauft,
als die Ärzte Jasselin mitgeteilt hatten, dass seine Zeugungsunfähigkeit
vermutlich unheilbar sei. Sie waren sehr glücklich zusammen gewesen, so
glücklich, dass sie einen richtigen Schock erlebten, als Michel im Alter von
acht Jahren von einer Herzwurmerkrankung befallen wurde. Die Herzwurmerkrankung
ist eine Parasitenkrankheit, ausgelöst durch einen Fadenwurm, der sich in der
rechten Herzkammer und in der Lungenarterie ansiedelt. Die Symptome sind
stärkere Ermüdbarkeit, Husten und schließlich Herzinsuffizienz, die zu
Ohnmachtsanfällen führen kann. Die Behandlung ist nicht ganz risikolos: Manchmal
befinden sich mehrere Dutzend Fadenwürmer, von denen manche eine Länge von
dreißig Zentimetern erreichen, im Herzen des Hundes. Mehrere Tage lang bangten
die beiden um sein Leben. Der Hund ist so etwas wie ein endgültiges Kind,
gefügiger und sanfter und gleichsam in einem Alter, in dem das Kind vernünftig
wird, stehen geblieben; aber darüber hinaus ist es ein Kind, das man überleben
wird: Wenn man bereit ist, einen Hund zu lieben, muss man auch dazu bereit
sein, ein Wesen zu lieben, das einem unweigerlich eines Tages entrissen wird,
und das war ihnen erstaunlicherweise vor Michels Krankheit nie klar geworden.
Am Tag nach seiner Genesung beschlossen sie, dass er Nachkommen bekommen solle.
Die Züchter, an die sie sich wandten, hatten gewisse Vorbehalte: Sie hätten zu
lange gewartet, der Hund sei schon recht alt, seine Spermienqualität sei
möglicherweise nicht mehr ausreichend. Schließlich erklärte sich einer von
ihnen, der in der Nähe von Fontainebleau angesiedelt war, bereit, und die
Verpaarung von Michel mit einer jungen Hündin namens Lizzy Lady de Heurtebise
führte zur Geburt von zwei Welpen, einem Männchen und einem Weibchen. Als
Besitzer des Deckrüden (wie das in Züchterkreisen genannt wird) durften sie
sich, so war es Brauch, den ersten Welpen aussuchen. Sie wählten den Rüden und
gaben ihm den Namen Michou. Er schien keinen Geburtsfehler zu haben, und
entgegen ihren Befürchtungen nahm der Vater seine Ankunft sehr gut auf und
zeigte keinerlei Eifersucht.
Nach einigen Wochen stellten sie
jedoch fest, dass sich Michous Hoden noch nicht gesenkt hatten, was allmählich
als unnormal zu betrachten war. Sie zogen einen Tierarzt zu Rate und dann einen
zweiten: Beide führten die Ursache übereinstimmend auf das zu hohe Alter des
Erzeugers zurück. Der zweite zog anfangs einen chirurgischen Eingriff
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