Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
seit
ihrer Kindheit – von einer Karriere im Hauptquartier der Pariser
Kriminaldirektion am Quai des Orfèvres, manche waren nur aus diesem Grund zur
Polizei gegangen, die Konkurrenz war hart, und daher war er ein wenig
überrascht, dass sein Antrag auf Versetzung an das Kriminaldezernat angenommen
wurde, nachdem er fünf Jahre lang in verschiedenen Polizeikommissariaten gearbeitet
hatte. Er war damals gerade mit einer Frau zusammengezogen, die zu dem
Zeitpunkt, als er sie kennenlernte, Wirtschaftswissenschaften studierte und
sich anschließend fürs Lehrfach entschied: Sie bekam in jenen Tagen eine
Assistentenstelle an der Universität Paris-Dauphine. Aber er hatte nie erwogen,
sie zu heiraten oder auch nur einen Zivilen Solidaritätspakt mit ihr zu
schließen – die Spuren, die die Scheidung seiner Eltern bei ihm hinterlassen
hatte, waren unauslöschlich.
»Soll ich dich zu Hause
absetzen?«, fragte Ferber leise. Sie waren an der Porte d’Orléans angelangt.
Jasselin stellte plötzlich fest, dass sie während der ganzen Fahrt nicht ein
einziges Wort gewechselt hatten; er war so in seine Gedanken vertieft gewesen,
dass er nicht einmal bemerkt hatte, wie sie an den Mautstellen Halt gemacht
hatten. Es war ohnehin noch zu früh, um irgendetwas über den Fall sagen zu
können – die Nacht würde ihnen erlauben, etwas Abstand zu gewinnen und den
Schock ein wenig zu mildern. Aber er machte sich keine Illusionen: Aufgrund der
Abscheulichkeit des Verbrechens und der Tatsache, dass das Opfer ein Prominenter war, würde alles
sehr schnell gehen, sie würden sofort unter riesigen Druck geraten. Die Presse
war noch nicht informiert, aber diese Atempause würde nur von kurzer Dauer
sein: Noch heute Abend musste er seinen Chef auf dessen Handy anrufen. Und der
würde vermutlich sofort den Polizeipräsidenten anrufen.
Jasselin wohnte in der Rue
Geoffroy-Saint-Hilaire, fast an der Ecke der Rue Poliveau, nur ein paar
Schritte vom Jardin des Plantes entfernt. Wenn er nachts mit seiner Frau durch
das Viertel ging, hörten sie manchmal das Trompeten der Elefanten, das Brüllen
der Raubtiere – Löwen? Panther? Pumas? Sie waren nicht imstande, sie anhand der
Geräusche zu unterscheiden – und besonders in Vollmondnächten auch das Heulen
mehrerer Wölfe, das bei Michou, ihrem Bologneser, panische, atavistische Angst
auslöste. Sie hatten keine Kinder. Als Hélène nach mehreren Jahren des
Zusammenlebens noch immer nicht schwanger geworden war, obwohl ihr Sexualleben
– dem gängigen Ausdruck zufolge – »durchaus zufriedenstellend« war und sie keinerlei
empfängnisverhütende Maßnahmen ergriffen hatten, beschlossen sie, zum Arzt zu
gehen. Leicht demütigende, aber rasche Untersuchungen ergaben, dass er an einer Oligospermie litt. Der Name der Krankheit war in seinem Fall eher ein Euphemismus: Seine
Ejakulate, deren Volumen im Übrigen recht bescheiden war, zeichneten sich
nämlich nicht durch eine zu geringe Anzahl von
Spermien aus, sondern sie enthielten überhaupt keine Spermien .
Eine Oligospermie kann sehr unterschiedliche Ursachen haben: Krampfadernbildung
im Hodensack, Hodenschwund, hormonales Defizit, chronische Entzündung der
Prostata, Grippe oder anderes. Sie hat nur in den seltensten Fällen etwas mit
männlicher Potenz zu tun. Manche Männer, die nur sehr wenige oder gar keine
Spermien produzieren, haben bisweilen Erektionen wie
ein Stier , während andere, fast impotente
Männer, so reichliche und fruchtbare Ejakulate haben, dass sie damit ganz
Westeuropa wiederbevölkern könnten. Die Kombination dieser beiden Eigenschaften
charakterisiert hinreichend das männliche Ideal, das Pornofilme in den
Vordergrund stellen. Jasselin befand sich nicht in dieser vorteilhaften Lage:
Er konnte zwar mit über fünfzig Jahren seine Frau noch mit kräftigen, dauerhaften
Erektionen beglücken, aber er wäre gewiss nicht imstande gewesen, ihr eine Spermadusche zu bieten, falls
es sie danach verlangt hätte; seine Samenmenge überstieg kaum das Fassungsvermögen
eines Kaffeelöffels.
Die Oligospermie, Hauptursache
männlicher Zeugungsunfähigkeit, ist grundsätzlich schwer und bisweilen gar
nicht zu heilen. Es gab daher nur zwei Lösungen: den Samen eines Spermaspenders
in Anspruch zu nehmen oder ein Kind zu adoptieren. Nachdem sie mehrmals darüber
gesprochen hatten, beschlossen sie, darauf zu verzichten. Hélène legte ehrlich
gesagt gar nicht so großen Wert darauf, ein Kind zu haben, und daher schlug sie
ihm ein paar Jahre
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