Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
wusste insgeheim, und manchmal gab es ihm sein Dienststellenleiter
bei ihren monatlich zweimal stattfindenden Mitarbeitergesprächen auch offen zu
verstehen, dass man von ihm jetzt nicht mehr unbedingt erwartete, Fälle aufzuklären , sondern eher,
seine Nachfolger zu benennen und jene Beamten zu kooptieren, die diese Fälle
nach ihm aufzuklären hatten.
Ferber und die beiden Spurensicherer
gingen nach draußen, er befand sich nun allein im Raum. Die Helligkeit nahm
weiter ab, aber er hatte keine Lust, das Licht einzuschalten, er spürte, ohne
sich das erklären zu können, dass der Mord am helllichten Tag begangen worden
war. Die Stille war fast unwirklich. Weshalb hatte er nur den Eindruck, dass es
bei diesem Fall etwas gab, das ihn ganz persönlich betraf? Er betrachtete noch
einmal das komplexe Motiv, das die auf dem Fußboden des Wohnzimmers verstreuten
Fleischbrocken bildeten. Er empfand nicht wirklich Ekel, sondern vielmehr ein
allgemeines Mitleid mit der ganzen Erde und der Menschheit, in deren Schoß
solche Abscheulichkeiten begangen werden konnten. Ehrlich gesagt wunderte er
sich ein bisschen, dass er diesen Anblick ertragen konnte, der sogar die
Techniker des Erkennungsdienstes umgehauen hatte, obwohl sie abgehärtete, mit
dem Schlimmsten vertraute Männer waren. Als er ein Jahr zuvor gespürt hatte, dass
es ihm immer schwerer fiel, den Anblick von Leichen am Tatort zu ertragen,
hatte er das buddhistische Zentrum in Vincennes aufgesucht, um sich zu
erkundigen, ob es möglich sei, dort Asubhã zu praktizieren, die Meditation in Präsenz eines Leichnams.
Der diensthabende Lama hatte zunächst versucht, ihn davon abzubringen: Diese
Art von Meditation, meinte er, sei schwierig und kaum mit westlicher Mentalität
in Einklang zu bringen. Doch als Jasselin ihm seinen Beruf verriet, besann er
sich und bat um Bedenkzeit. Ein paar Tage später rief der Lama ihn an und sagte
ihm, ja, in seinem besonderen Fall könne Asubhã vermutlich durchaus das Richtige sein. In Europa werde
es zwar nicht praktiziert, da es mit den hiesigen sanitären Normen unvereinbar
sei, aber er könne ihm die Adresse eines Klosters in Sri Lanka geben, das
manchmal Besuchern aus westlichen Ländern den Zugang gestatte. Jasselin hatte
zwei Wochen seines Urlaubs darauf verwandt, nachdem er – und das war die größte
Schwierigkeit gewesen – eine Fluggesellschaft gefunden hatte, die bereit war,
seinen Hund mitfliegen zu lassen. Während seine Frau an den Strand ging, begab
er sich jeden Morgen auf einen Totenplatz, auf dem die Leichen von vor kurzem
verstorbenen Menschen niedergelegt wurden, ohne dass irgendwelche Maßnahmen
getroffen wurden, um sie vor Raubtieren oder Insekten zu schützen. Und so
konnte er bei äußerster Konzentration all seiner geistigen Fähigkeiten und
unter Beachtung der Lehre, die Buddha in seiner Rede über das Erwecken der
Achtsamkeit auf den Körper zum Ausdruck gebracht hat, achtsam den aufgedunsenen
Leichnam betrachten, achtsam den eitrigen Leichnam betrachten, achtsam den
zerhackten und zerstreuten Leichnam betrachten, achtsam den madigen Leichnam betrachten.
In jedem Stadium musste er achtundvierzig Mal wiederholen: »Dies ist mein
Schicksal, das Schicksal der gesamten Menschheit, dem kann ich nicht entgehen.«
Wie ihm jetzt bewusst wurde, war die Asubhã- Methode ein voller
Erfolg gewesen, und zwar in einem solchen Maß, dass er sie ohne zu zögern jedem
Polizeibeamten empfohlen hätte. Trotzdem war er nicht zum Buddhisten geworden,
und obwohl sich sein instinktiver Ekel beim Anblick einer Leiche beträchtlich
verringert hatte, empfand er noch immer Hass auf den Mörder, Hass und Angst; er wünschte sich, der
Mörder möge vernichtet, vom Erdboden verschluckt werden. Als er die Tür öffnete
– eingehüllt von den Strahlen der untergehenden Sonne, die die Wiese
beleuchtete –, freute er sich, dass der Hass noch immer in ihm fortbestand, der
seiner Meinung nach für wirksame Verbrechensaufklärung notwendig war. Die
rationale Motivation, die Wahrheit herauszufinden, reichte im Allgemeinen
nicht; dabei war sie im vorliegenden Fall ungewöhnlich stark. Er spürte, dass
er es mit einem komplexen Wesen zu tun hatte, einem grauenhaften, aber
rationalen Menschen, wahrscheinlich einem Schizophrenen. Sobald sie wieder in
Paris waren, mussten sie sofort die Datenbank der Serienmörder zu Rate ziehen
und vermutlich auch die entsprechenden Dateien aus dem Ausland anfordern, denn
er konnte sich nicht entsinnen, jemals
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