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Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire

Titel: Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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sie machten noch in der Tür
wieder Halt. »Ich bin der Körper des Gesetzes, der unvollkommene Körper des
Moralgesetzes«, wiederholte er immer wieder, wie eine Art Mantra, ehe er sich
dazu entschloss, das näher zu betrachten, was seine Augen im Grunde schon wahrgenommen
hatten.
    Ein Kriminalbeamter zieht seine
Schlussfolgerungen ausgehend von der Leiche , das hat man ihm in seiner Ausbildung beigebracht, er
ist damit vertraut, die Stellung einer Leiche zu bestimmen und zu beschreiben,
die Verletzungen, die ihr zugefügt worden sind, und ihren Erhaltungszustand;
aber hier gab es streng genommen gar keine Leiche. Jasselin wandte sich um und
sah hinter sich die beiden Techniker des Erkennungsdienstes, die anfingen, mit
dem Kopf zu wackeln und von einem Bein aufs andere zu treten, genau wie die
Gendarmen aus Montargis.
    Der Kopf des Opfers war unverletzt.
Sauber abgetrennt ruhte er auf einem der Sessel vor dem Kamin, eine kleine
Blutlache hatte sich auf dem dunkelgrünen Samt gebildet; auf dem Sofa, ihm
gegenüber, lag der Kopf eines großen schwarzen Hundes, der ebenfalls sauber
abgetrennt war. Der Rest war ein einziges Blutbad, ein unglaubliches Gemetzel,
der Fußboden war mit Fleischbrocken und Hautfetzen übersät. Doch weder das Gesicht
des Mannes noch das des Hundes war in einem Ausdruck des Entsetzens erstarrt,
sie spiegelten eher Ungläubigkeit und Wut wider. Zwischen den vermischten
Fleischstücken des Mannes und des Hundes führte ein fünfzig Zentimeter breiter
sauberer Gang bis zum Kamin, in dem sich Knochen stapelten, an denen noch
Fleischreste hingen. Jasselin betrat vorsichtig den Gang und sagte sich dabei,
dass er vermutlich von dem Mörder angelegt worden war. Dann drehte er sich um
und ließ mit dem Rücken zum Kamin den Blick durch das Wohnzimmer schweifen, das
eine Größe von etwa sechzig Quadratmetern haben mochte. Die gesamte Oberfläche
des Teppichs war mit Blutflecken überzogen, die an manchen Stellen komplexe Arabesken
bildeten. Die Fleischbrocken selbst, deren rote Farbe hier und dort
schwärzliche Töne annahm, schienen nicht aufs Geratewohl hingelegt worden zu
sein, sondern einer schwer zu entziffernden Logik zu gehorchen; er hatte den
Eindruck, ein Puzzle vor sich zu haben. Kein Fußabdruck war zu sehen, der Mörder
war methodisch vorgegangen, er hatte als Erstes die Fleischstücke abgetrennt,
die er in den Winkeln des Raumes verteilen wollte, und war dann nach und nach
zur Mitte zurückgekehrt, wobei er einen Weg zum Ausgang freigelassen hatte.
Jasselin sagte sich, dass er Fotos machen lassen müsse, um das Gesamtbild
rekonstruieren zu können. Er warf einen Blick auf die beiden Techniker des
Erkennungsdienstes – einer der beiden trat weiterhin von einem Bein aufs andere
wie ein Schwachsinniger, der andere hatte in der Bemühung um Selbstbeherrschung
einen Fotoapparat mit Scanrückteil aus seiner Tasche geholt und schwenkte ihn
mit ausgestreckten Armen hin und her, schien aber noch nicht imstande zu sein,
auf den Auslöser zu drücken. Jasselin zog sein Handy hervor.
    »Christian? Hier ist Jean-Pierre.
Kannst du mir einen Gefallen tun?«
    »Schieß los.«
    »Du musst die beiden Typen vom
Erkennungsdienst abholen, die sind im Moment sowieso dienstuntauglich, außerdem
müssen wir bei den Fotos in diesem Fall ein bisschen tricksen. Es hat keinen
Sinn, dass sie wie üblich nur Nahaufnahmen machen, ich brauche Gesamtansichten
von Teilen des Raumes und wenn möglich vom ganzen Raum. Aber das kann ich ihnen
nicht sofort verklickern, wir müssen erst mal warten, bis sie wieder etwas zu
sich kommen.«
    »Ich kümmere mich darum … Übrigens
kommt unser Team gleich an. Sie haben mich von der Ausfahrt Montargis
angerufen, sie sind in zehn Minuten da.«
    Nachdenklich beendete er das
Gespräch. Sein junger Kollege erstaunte ihn immer wieder. Sein gesamtes Team
traf wenige Stunden nach dem Ereignis ein, und zwar vermutlich mit ihren
eigenen Privatwagen; sein ätherisches, zartes Äußeres war eindeutig trügerisch,
er hatte sein Team fest in der Hand und war vermutlich der beste Gruppenleiter,
den Jasselin je unter sich gehabt hatte. Zwei Minuten später sah er, wie Ferber
diskret den Raum betrat, den beiden Technikern des Erkennungsdienstes auf die
Schulter klopfte und sie rücksichtsvoll nach draußen führte. Jasselin stand
kurz vor der Pensionierung: Er hatte noch ein gutes Jahr abzuleisten und
konnte, wenn er wollte, vielleicht noch zwei, drei oder maximal vier Jahre im
Dienst bleiben. Er

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