Kastner, Erich
zwischen Kopenhagen und Berlin bestanden hatte. Er ruderte mit beiden Armen, während er sprach, und konnte sich nicht genug tun. Schon jetzt, wenige Stunden nachdem sie geschehen waren, gerieten die Taten des jugendlichen Helden ins Überlebensgroße.
Der alte Sammler hörte lächelnd zu und dachte: Der Volksmund öffnet sich und siehe, er hat vierundsechzig Zähne! Früher tötete man Drachen, heute erlegt man Hochstapler. Nur die Nebensachen ändern sich. Die Mythenbildung überlebt die Technik. Je mehr er sich in geschichtsphilosophische Vermutungen verstrickte, um so weniger hörte er zu.
Auch Seiler hörte nicht zu. Er saß neben Irene Trübner und fragte, wie schon einmal vor vierundzwanzig Stunden: »Wollen wir uns wieder vertragen?«
Sie ließ die Frage unbeantwortet und erklärte: »Ich komme heute abend in Ihre Wohnung, Herr Direktor, und werde mir den Schaden besehen. Morgen können wir dann neue Möbel kaufen.
Ich kenne verschiedene Geschäfte, wo man gut und preiswert bedient wird.« Er schwieg.
»Paßt es Ihnen heute abend gegen sieben Uhr?« fuhr sie fort. »Sie wohnen ja ganz in meiner Nähe. In der Holtzendorffstraße, nicht wahr? Welche Nummer, bitte?«
Er betrachtete sie feindselig. Seine Augen glichen feurigen Kohlen.
Sie sagte: »Ach nein! Sie wohnen ja gar nicht in der Holtzendorffstraße. Das war ja gelogen, Herr Direktor! Darf ich um die wirkliche Adresse bitten? Aber nicht nur ungefähr, ja?«
Er rückte von ihr ab. »Ich verzichte auf Ihre gütige Mitwirkung.
Einen Tisch und ein paar Stühle kann ich mir auch allein besorgen.«
»Mein Chef hat mich beauftragt, Ihnen zu helfen. Ich komme gegen sieben Uhr. Ich bin in geschäftlichen Angelegenheiten sehr zuverlässig.«
Er rutschte auf dem Stuhl hin und her, als säße er auf einem in Betrieb befindlichen Spirituskocher. »Ich öffne nicht. Sie brauchen nicht zu kommen. Ich huste auf Ihre Hilfe. Lieber will ich bis an mein Lebensende in einem Hühnerstall wohnen.«
»Also gegen sieben Uhr«, erwiderte sie unerschütterlich. »Es bleibt dabei.«
Seilers Geduldsfaden riß. Er sprang auf. »Unterstehen Sie sich!«
rief er. »Wenn Sie kommen sollten, werfe ich Sie die Treppe hinunter! Ich wohne im vierten Stock, das lohnt sich!« Dann raste er aus dem Zimmer und knallte die Tür zu.
»Grundgütiger Himmel!« sagte Külz erschrocken. »Was hat’s denn gegeben?«
»Nicht das geringste«, behauptete Fräulein Trübner.
»Na, ich weiß nicht!« erklärte der kleine dicke Herr Struve.
»Wenn mir jemand mitteilte, daß er mich die Treppen hinunterwerfen will, würde ich das doch etwas seriöser auffassen.«
»Er hat es aber gar nicht Ihnen, sondern mir mitgeteilt«, meinte sie. »Das ist jedoch ein Unterschied!«
Ihr Chef, der Kunstsammler, rieb sich die Hände. Das hing zwar irgendwie mit seiner mangelhaften Blutzirkulation zusammen, wirkte aber immer, als ob er sich besonders behaglich fühle.
»Wenn es keine Drohung war«, stellte er scharfsinnig fest, »dann kann es nur eine Liebeserklärung gewesen sein.«
»Wahrhaftig?« fragte Külz. »Na, da gratulier ich von ganzem Herzen, mein Kind. Ich habe lange nicht mehr Pate gestanden.«
Und obwohl es nicht üblich ist, dafür, daß man die Treppe hinuntergeworfen werden soll, Gratulationen entgegenzunehmen, neigte Irene Trübner den hübschen Kopf und sagte: »Besten Dank, meine Herren!«
Ein Hausbote meldete, Herrn Steinhövels Auto sei vorgefahren.
Man brach auf.
Der Kunstsammler hielt den Fleischermeister zurück und gab ihm ein Holzkästchen. »Das hätte ich ja fast vergessen! Darf ich Ihnen die Holbeinkopie, die Ihnen längst gehört, noch einmal, und nun für immer, schenken?«
Külz schüttelte ihm die Hand und steckte das Kästchen ein. »Das soll mir eine bleibende Erinnerung sein. Und meiner Emilie kauf ich eine Tafel Schokolade.«
Das Zimmer war höchstens eine halbe Minute leer.
Da kehrte Irene Trübner verstohlen zurück, hob den Telefonhörer ab und ließ sich mit Direktor Seiler verbinden.
»Hallo!« Seine Stimme klang rauh und heiser.
Sie antwortete nicht, sondern spitzte die Lippen.
»Hallo!« rief er mürrisch. »Zum Donnerwetter! Wer ist denn dort?«
»Die Irene«, sagte sie leise. »Wollen wir uns wieder vertragen?«
Herr Steinhövel hatte in seinem Wagen Platz genommen. »Wo ist denn meine Sekretärin?« fragte er.
Rudi Struve zeigte auf das Portal des Versicherungsgebäudes.
Die drei Männer lächelten.
Külz trat dicht an den Wagen und sagte:
Weitere Kostenlose Bücher