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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Magister
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Sitzgarnituren wurden von Zivilisten und Uniformierten gleichermaßen bevölkert. Sie diskutierten miteinander vor riesigen Monitoren, wiesen auf wechselnde schematische Darstellungen, deren Inhalt Sando in seinem Zustand nicht erfassen konnte. Frauen, elegant, in hochhackigen Schuhen, trugen Stöße von Unterlagen durch die Gänge. Andere kommunizierten, an großflächigen Schreibtischen sitzend, via Mikrofon und Kopfhörer mit irgendjemandem in der Festung oder draußen in Katharsia. Es herrschte die Emsigkeit eines Ameisenhaufens. Jeder verfolgte ein Ziel, erledigte eine Aufgabe. Dass ein brutaler Wärter einen geschundenen Gefangenen mitten durch diese perfekte Welt stieß, fiel niemandem auf. Es war Teil dieser kalten Betriebsamkeit. An einer holzgetäfelten Tür hieß Lemming Sando, stehen zu bleiben.
    „Zeig dein Gesicht!“, befahl er barsch und deutete auf eine Kamera an der Tür.
    Sando stellte sich gehorsam davor, doch nichts passierte.
    „Schlafen die dort drin?“, murrte Lemming, nicht zu laut wegen des Mikrofons an der Kamera.
    Es dauerte noch eine geraume Zeit. Dann öffnete sich die Tür mit einem leisen Summen.
    „Na endlich! Geh jetzt allein!“, hörte Sando Lemming hinter sich sagen.
    Bangen Herzens trat er durch die Tür. Eine Frau in hochhackigen Pumps schritt ihm entgegen. Ihr Gesicht bestand aus einem perfekten Lächeln, das durch den Purpurton ihrer Lippen noch verstärkt wurde.
    „Herzlich willkommen, junger Herr!“, flötete sie. „Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen!“
    Sando traute seinen Ohren nicht. Dass vor ihr ein schmutzstarrender, vor Angstschweiß stinkender, aus tiefen Augenhöhlen blickender Häftling stand, blendete die Dame offenbar vollständig aus.
    „Tag“, presste Sando zwischen den Lippen hervor.
    „Der Herr Präsident erwartet Sie bereits“, säuselte die Dame unbeirrt. „Bitte folgen Sie mir.“
    Sando fiel ein Stein vom Herzen. Trotz seines müden Hirns begriff er, dass er diesmal um die Folter herumgekommen war. Ein „Präsident“ würde seine heiligen Hallen nicht mit solch niederen Verrichtungen entweihen. Er folgte der Dame, die hüftenschwingend vorausstöckelte und einer mit goldenen Intarsien belegten zweiflügeligen Tür zustrebte. Als sie heran war, schwangen die Flügel auf und gaben den Blick frei auf einen lichtdurchfluteten Saal, dessen Wände reich mit Ornamenten und Spiegeln geschmückt waren. Die Vorzimmerdame bedeutete Sando einzutreten und zog sich dann zurück.
    Staunend hob der Junge den Kopf. Das Licht kam von einer Reihe von Kronleuchtern. An jedem funkelten Tausende Tropfen aus geschliffenem Kristall. Die glitzernden Lichtreflexe, von den Spiegeln an den Wänden vervielfacht, liebkosten alles, was sich im Raum befand, von der bemalten Decke bis zum Parkettboden, der mit aufwendigen Intarsien gearbeitet war. Ein Läufer aus rotem Samt führte den Besucher in die Mitte des Saales hin zu einem massiven Schreibtisch, der, wie zum Sprung bereit, auf geschnitzten Löwenfüßen stand.
    „Hallo, Sando!“
    Jetzt erst bemerkte der Junge, dass er nicht allein war. Doktor Fasin hatte hinter dem Schreibtisch gesessen und ihn beim Staunen beobachtet. Nun eilte er Sando auf dem roten Teppich entgegen und streckte ihm fröhlich die Hand hin.
    „Zwar hätte ich Grund, dir zu zürnen, Sando, aber Schwamm drüber! Willkommen!“
    Sando zögerte, die Begrüßung zu erwidern.
    Der Doktor lachte. „Wie ich sehe, hast du einiges durchgemacht seit deiner Festnahme. Weißt du, dass du mich in diesem Zustand stark an unsere erste Begegnung erinnerst? Als du in Katharsia ankamst, warst du genauso abgerissen und hungrig wie jetzt.“
    „Ich finde es nicht lustig, dass Gefangene so behandelt werden.“
    „Tut mir leid, wenn du Unannehmlichkeiten hattest, Sando.“ Lächelnd hob der Doktor den Zeigefinger. „Aber ein bisschen hast du dir die Behandlung auch selbst zuzuschreiben.“
    Er ging zum Schreibtisch zurück und läutete mit einem goldenen Glöckchen. Umgehend öffnete sich eine als Spiegel getarnte Tür. Kazim, Diener und treu ergebenes Wunschwesen des Doktors, erschien und fragte: „Wie abgesprochen, Herr Präsident?“
    „Du sagst es, Kazim. Der Junge soll sich erst einmal frisch machen.“
    „Wenn du mir bitte folgen würdest …“, forderte ihn Kazim auf.
    Doch Sando weigerte sich.
    „Warum ich? Die Gefangenen hungern und bekommen kaum Wasser. Ben ist krank und wird nicht versorgt.“
    „Wirklich?“ Doktor Fasin tat erstaunt. „Es ist

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