Katharsia (German Edition)
Wachmann die Flasche aus der Hand.
„Ich nehme an, Sie sind der Boss hier“, sagte sie spitz, während sie Ben die Flasche an den Mund setzte.
„Genau, kleines Fräulein! Das sollten Sie sich gut merken!“
Damit verließ er die Zelle.
Kaum war Lemming weg, bröckelte bei Denise die Fassung, die sie ihm gegenüber so mühsam bewahrt hatte.
„Ich habe euch zu spät gewarnt“, barmte sie. „Nun sitzen wir im Schlamassel und ich bin daran schuld!“
Ihre Flügel zuckten verräterisch. Sie war einem Heulanfall nahe, doch Sando, Gregor und Nabil hatten nur Augen für die Wasserflasche.
„Oh, entschuldigt, ihr habt sicher ebensolchen Durst wie Ben.“
Nabil brummte heiser: „Nur ein paar Tropfen, Denise.“
Sie reichte die Flasche herum, sorgsam darüber wachend, dass keiner mehr als der andere trank.
Als die Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert war, saßen sie schweigend beieinander. In sich gekehrt lauschten sie auf die Kakophonie, die durch das Gitter zu ihnen hereindrang: Stöhnen, Rufen, Scharren, Klirren. Laute, verursacht von Menschen, die dem KORE getrotzt hatten wie sie und die jetzt ihr Schicksal teilten.
„Wie es aussieht, hat Doktor Fasin alles unter Kontrolle“, brummte Nabil, einen bedauernden Blick auf den kleinen Engel werfend.
„Doktor Fasin? Du meinst Professor Sindelfang“, korrigierte ihn Denise.
Nabil zuckte die Schultern. „Macht das einen Unterschied?“
„Nein“, räumte Denise ein.
„Dein Vater hat ihn auf einem Zeitungsfoto erkannt?“
„Ja, die Aufnahme zeigte Sando und ihn im Pariser Krankenhaus.“
Sando erinnerte sich an die Situation, in der das Foto entstanden war. Ein aufdringlicher Reporter hatte plötzlich im Zimmer gestanden und auf den Auslöser gedrückt. Doktor Fasin war außer sich vor Zorn gewesen und hatte den Fotoapparat zerstört.
„Übrigens: Dieser Reporter ist inzwischen tödlich verunglückt.“
Denise blickte vielsagend in die Runde.
„Kein Wunder, der Doktor hat es ihm angedroht“, sagte Sando. „Natürlich habe ich es nicht ernst genommen damals. Ich fand es nur etwas merkwürdig, dass er wegen eines läppischen Fotos so überreagiert.“
„Ein Menschenleben zählt bei ihm nicht viel“, brummte Nabil.
„Habt ihr die Festung gesehen? Die schweren Waffen? Es kann einem schon Angst machen.“
Denise stand von der Pritsche auf, beugte sich zu Ben hinab und sah sich dann suchend um.
„Ein feuchtes Tuch wäre nicht schlecht.“
Wortlos reichte ihr Sando sein Taschentuch und wies auf die feuchte Felswand. Denise verstand und begann dasselbe Spiel, das die Gefährten schon einmal bis zur Erschöpfung getrieben hatten.
„Der Doktor lässt sich schon mit ,Präsident‘ ansprechen“, sagte Gregor nachdenklich.
Denise legte Ben das feuchte Tuch auf die Stirn und meinte niedergeschlagen: „Ich befürchte, dass er es bald sein wird. Und dann …“
„Denise …“, röchelte Ben dazwischen. „So darfst du … nicht reden.“
Er schloss die Augen und atmete schwer. Der Widerspruch hatte Kraft gekostet.
Denise zog es vor, nichts darauf zu erwidern, um Ben nicht aufzuregen.
Im Gang wurde es unruhig. Die Gefährten horchten auf. Jemand fuhr mit einem harten Gegenstand an den Gittern entlang. Das Geräusch näherte sich.
Plötzlich stand Mike Lemming vor ihrer Zelle, den Schlagstock in der Hand.
„Sando Wendelin, fertig machen!“
Dem Jungen rutschte das Herz in die Hose.
„Wie bitte?“
Lemming öffnete die Gittertür und sagte genüsslich: „Mitkommen zum Verhör!“
Mehr taumelnd als gehend folgte Sando der Aufforderung. Denise blickte ihm mit weit aufgerissenen Augen nach. Gregor drückte Sando noch rasch die Hand, als er bei ihm vorbeikam. „Lass dich nicht unterkriegen!“, murmelte er. Dann stolperte Sando durch den Gang, vorwärts gestoßen von Mike Lemming. Ihre Schuhe dröhnten auf dem Blechboden.
Zum Verhör! Zur Folter!
Sie stiegen in den Fahrstuhl. Die grelle Leuchtzahl, die das Stockwerk anzeigte, begann zu zählen, brannte sich bei Sando ein: Von minus fünfzig bis minus eins, vom Verlies in der tiefsten Tiefe der Erde bis zur Folterkammer im Untergeschoss der Festung!
Geräuschlos öffnete sich die Tür, spuckte ihn aus zum Verhör.
Geblendet kniff Sando die Augen zusammen. Die Welt, in der er sich wiederfand, war hell und atmete Großzügigkeit.
Die Beletage der Hölle , dachte er.
Gläserne Wände gaben die Sicht auf Büros und Besprechungsräume frei. Lederbezogene Drehstühle und
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