Katharsia (German Edition)
von Fluggleitern ausgelöst hatte. Ihrer Steuerung beraubt, waren die Mobile vom Himmel gefallen und hatten Tod und Verwüstung über die Metropolen gebracht. Auch Dresden hatte es schwer getroffen. Nur wenige Gebäude des historischen Stadtkerns waren verschont geblieben. Dazu gehörten die Frauen- und die Hofkirche, deren Türme das Bild der Stadt prägten. Bis auf kleinere Schäden am Außenschmuck hatten sie das Inferno glimpflich überstanden. Auch große Teile des Schlosses standen noch. Schwer getroffen hatte es die Semperoper und den Flügel des Zwingers, in dem die Galerie untergebracht war. Sie bestanden nur noch aus Bergen von Schutt, durch die sich nun, grau vom Steinstaub, die Menschen wühlten. Aus den müden Gesichtern sprachen Wut, Trotz und oft auch Resignation.
Nur nicht davon anstecken lassen , sagte sich Sando. Weitermachen!
Fangen und werfen. Fangen und werfen. Vor seinen Augen steckte eine dunkel verwitterte Putte aus Sandstein kopfüber in einem Haufen aus Mauerstücken und verkohlten Balken, eine helle Bruchstelle dort, wo ein Arm fehlte. Nicht darüber nachdenken, was von der Madonna geblieben sein mochte, dem Gemälde, das sie heute endlich zu finden hofften. Die Wand, an der das Bild gehangen hatte, ragte wie der Stumpf eines morschen Zahns aus dem Trümmerberg hervor. Zwar war es schwer vorstellbar, dass der aufgehäufte Schutt das sensible Stück Leinwand verschont haben sollte, und wahrscheinlich war es völlig sinnlos, sich so zu verausgaben, aber Sando wollte Gewissheit über das Schicksal des Gemäldes. Er biss die Zähne zusammen, ignorierte den Schmerz, der ihn jeden Muskel einzeln spüren ließ. Fangen und werfen. Fangen und werfen.
Die Herbstsonne versank bereits hinter den Ruinen, angenehm kühler Wind umwehte seinen erhitzten Körper, als eine laute Stimme hektisch rief: „Runter von der Ruine!“
Erschrocken hastete Sando mit den Arbeitern den Trümmerberg hinab. Über ihnen polterte es. Eine Staubwolke stieg auf. Dann klaffte oben im Schutt ein schwarzes Loch. Dort, wo Sando eben noch gestanden hatte, waren Balken abgerutscht und in die Tiefe einer Höhle gestürzt, die sich plötzlich aufgetan hatte. Alle atmeten erleichtert auf, dass niemand zu Schaden gekommen war.
Als die erste Schrecksekunde vorüber war, sagte einer laut: „Der Hohlraum ist Teil eines Ausstellungssaals.“
Die Madonna! Keiner sagte dieses Wort laut, aber alle dachten es.
Die Ersten, die neugierig zu dem klaffenden Höhleneingang hinaufklettern wollten, wurden lautstark zurückgepfiffen. Zu gefährlich, hieß es. Daraufhin schleppten zwei Arbeiter eine lange Leiter herbei, legten sie so auf den Schutt, dass sie bis an das Loch heranreichte. Während der eine die Leiter unten sicherte, kletterte der andere hinauf, leuchtete mit einer Taschenlampe in die Finsternis. Sando beobachtete ihn gespannt, hielt den Atem an.
„Sie ist es, kein Zweifel!“ Die Stimme des Mannes klang dumpf, weil er in das Loch hineinrief.
Die Männer um Sando jubelten. Dann folgten besorgte Fragen: „Wie ist ihr Zustand?“ – „Ist sie sehr kaputt?“
„Schwer zu sagen“, kam die Antwort von oben. „Aber es sieht aus, als wäre sie nur tüchtig eingestaubt.“
Nun brannte jeder darauf, die Madonna zu sehen. Einer nach dem anderen stieg hinauf, warf einen Blick in das geheimnisvolle Dunkel und kam mit leuchtenden Augen wieder herunter. Sando, der Jüngste, war als Letzter an der Reihe. Als er die Leiter erklomm, zitterten seine Füße auf den Sprossen. Er schob es auf die Anstrengungen der letzten Tage und wollte sich nicht eingestehen, dass es die bevorstehende Begegnung war, die gespannte Erwartung, die seinen Muskeln zu schaffen machte. Tapfer ignorierte er den Anflug von Schwäche, denn gleich würde er die Madonna vor sich sehen. Seine Madonna, weil sie ihn an Maria erinnerte.
Endlich oben angelangt, knipste er keuchend die Lampe an. Der Strahl fuhr durch die Finsternis, erhellte Millionen von Kalkstaubpartikeln, die in der Luft schwebten. Sando brauchte ein Weilchen, um in der Tiefe zwei Kindergesichter auszumachen. Er erkannte sie sofort. Es handelte sich um die pausbäckigen Engel, die die untere Bildkante des Madonnenbildes zierten. Die Ellbogen auf den goldenen Rahmen gestützt, schauten sie zur Mutter Gottes auf. Sando folgte mit der Lampe der Blickrichtung der Engel, bis endlich der Strahl auf das weiche Antlitz der Madonna traf. Das Herz des Jungen klopfte, denn sie hielt ihre Augen auf ihn
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