Katharsia (German Edition)
diese unbeschwerten Lichtwesen nichts gemein hatten mit den unglücklichen Seelen, denen er bislang begegnet war. Und in Sando keimte die Gewissheit, dass er Zeuge von etwas Wunderbarem wurde.
„Hallo?“, flüsterte er und wartete gespannt, ob er Gehör finden würde. Er brauchte Geduld, denn der Weg der Laute hin zu den Lichtwesen verlängerte sich mehr und mehr.
„Es ist Zeit zu gehen“, wisperte endlich Djamila silberhell. „Der Dämon ist besiegt und wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben: Ich meinen Ben und Gregor seinen Mut.“
Mit jedem Wort wurde ihre Stimme dünner, während sich das Leuchten verstärkte.
„Wo wollt ihr denn hin?“, hauchte Sando verständnislos.
Unruhig wartete er. Drang seine Botschaft überhaupt noch bis zu ihnen vor?
„Wir gehen jetzt ins Licht“, kam es endlich zurück. „Neunhundert Jahre sind genug.“
„Und sag allen, dass ich kein Feigling bin, Sando!“, wisperte Gregor fröhlich.
„Versprochen!“, sagte Sando gerührt.
Ihm wurde warm ums Herz und Wehmut ziepte darin, süße Wehmut, die zum Glück gehörte wie der Schatten zum Licht, denn eher als sein Verstand hatte der heftig zuckende Muskel in seiner Brust begriffen, dass dies der Abschied war. Seine Gefährten waren aufgebrochen in jene geheimnisvolle Welt, die nach Katharsia kam und von der es hieß, dass das helle Glück des Übergangs nur ein blasser Schimmer dessen war, was die Ankommenden dort erwartete.
Aber Sando empfand keinen Neid, nicht den Drang, ihnen zu folgen. Er hatte noch hier zu tun. Vom Frieden seiner Seele war er weit entfernt. Er sah die Lichtgestalten, die allmählich verschmolzen zu einem tanzenden Flammenmeer, und ihm kam in den Sinn, dass ihm Djamila noch eine Antwort schuldete.
„Was ist mit Maria?“, flüsterte er. „Was genau hat sie dir gesagt, Djamila?“
Jetzt wurde das Warten zur Ewigkeit. Bange beobachte Sando die Metamorphosen, die das Feuer durchlief. Wie ein Wetterleuchten wechselte es Form und Farben, sprang unstet von Ort zu Ort. Mal flackerte es grell auf, dass er geblendet die Augen schloss, mal schien es kraftlos zu erlöschen. Sando lauschte in diesen rätselhaften Kosmos hinein, doch die Zeit verrann und er blieb stumm. Nur der wilde Tanz des Lichtes schien an Kraft zu verlieren. Er seufzte und der Laut, der aus seiner Brust drang, hätte beinahe das Wispern Djamilas übertönt, das erst jetzt den Weg zu ihm gefunden hatte. Kaum hörbar klang es in seinem Ohr: „,Ich gehe nach Hause‘ – das waren Marias Worte.“
„Nach Hause?“, rief Sando ratlos. „Was meinte sie damit?“
Nach Hause! Was sollte er damit anfangen? Wo war Maria denn zu Hause? Im Privatparadies dieses Jamal al Din? Er hoffte auf Antwort. Würde sie ihn noch erreichen?
Das Wetterleuchten bäumte sich noch einmal heftig auf, wurde dann allmählich schwächer. Die Phasen der Dunkelheit zwischen den Blitzen gewannen die Oberhand und trugen schließlich den Sieg davon. Das Feuer der Lichtgestalten war endgültig erloschen. Djamila, Ben und Gregor waren hinübergetreten in eine andere Welt, die das Glück verhieß.
Sando schloss die Augen. Das Glück … Ihn hatte es lediglich aus der Ferne gestreift wie ein leichter Flügelschlag. Und dennoch hatte es ihm viel von seiner Bitterkeit genommen.
EPILOG
Den Ziegel mit beiden Händen fangen und dem Nebenmann zuwerfen. Fangen und werfen. Hunderte Male am Tag. Obwohl Sandos Hände in groben Handschuhen steckten, hatten sie Risse bekommen. Sein Rücken schmerzte, seine Lungen rasselten vom Kalkstaub. Er war Glied in einer Kette von Arbeitern, die der Ruine der Dresdner Galerie zu Leibe rückten. Wie alle hier hoffte er, noch etwas retten zu können von den Kunstschätzen, die unter den Trümmern begraben lagen. Daher beklagte er sich nicht über die harte Arbeit. Im Gegenteil. In seinem Bauch kribbelte es vor Erwartung. Der heutige Tag versprach Besonderes. Heute wollten sie sich bis zu jener Stelle vorarbeiten, an der die Fachleute die Sixtinische Madonna vermuteten.
Fangen und werfen. Fangen und werfen. Sando schuftete verbissen, im Ohr das Pickern der Hämmer, mit denen die Steine vom Mörtel befreit wurden, bevor sie die Kette durchliefen hin zu einer Reihe von Ziegelstapeln, die auf einem freigeräumten Platz neben der Ruine aufgeschichtet wurden.
Sechs Wochen waren verstrichen, seit Graf von Wolfenhagen mit einem Knopfdruck die Verkehrsleitzentralen in den katharsischen Großstädten gesprengt und einen Bombenhagel von Millionen
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