Katharsia (German Edition)
Geräusch eines Fensters, das geschlossen wurde.
Stille. Nur eilige Schritte im Haus. Jemand lief die Treppe hinab. Unverkennbar Sina. Was hatte sie zu dieser Zeit hier oben getan, ihr Zimmer lag im Erdgeschoss?
Sando sprang aus dem Bett, sah auf den dunklen Flur hinaus. Er hörte Sina unten in der Küche rumoren. Die Tür zu Ben Hakims Zimmer stand einen Spalt breit offen, ein Lichtstreif fiel in den Gang. Sando näherte sich leise und wagte einen Blick hinein. Er sah Denise, die sich – auf dem Bettrand sitzend – besorgt über Ben Hakim beugte, und er hörte die Stimme des Alten. „Ach, Denise … es ist wie der Fluch im Märchen: Meine Schuhe tanzen mit mir und ich habe nicht die Macht, sie zu stoppen. Ich bin erschöpft, möchte, dass es endlich aufhört, doch Katharsia entlässt nur Seelen, die ihre Ruhe gefunden haben.“
„Eines Tages wirst du sie finden, Ben.“
„Danke, Denise. Geh wieder schlafen und mach dir keine Sorgen, diese Nacht kommt er nicht wieder, der Traum …“
Denise strich ihm übers Haar und Ben Hakim wehrte gerührt ab.
„Lass gut sein. Geh schlafen. Sina bringt mir noch einen Tee.“
Denise stand auf und Sando zog sich leise in sein Zimmer zurück. Es brauchte keiner zu wissen, dass er Zeuge dieser Szene gewesen war. Ben Hakim also war es, von dem diese nächtlichen Klagelaute kamen.
Mein Gott , dachte Sando, was muss er durchgemacht haben, dass ihn die Träume noch nach Jahrhunderten quälen …
Am nächsten Tag kam der Alte früher als sonst nach Hause. Schwer auf seinen Stock gestützt betrat er den Hof und warf einen dicken Briefumschlag auf den Tisch. Denise sprang auf und schob ihm einen Stuhl hin.
„Wie kommt es, dass du heute so früh zurück bist, Ben?“
Ben Hakim setzte sich ächzend.
„Dein Vater musste glauben, du seiest tot. Ich habe ihm ein Lebenszeichen von dir zukommen lassen.“
Er legte Denise einen Zettel hin. Sie nahm ihn mit einem fragenden Blick und faltete ihn auseinander. Als sie ihn gelesen hatte, umarmte sie den Alten. Aus den Augenwinkeln sah Sando die wenigen Worte, die darauf geschrieben standen: „Sei vorsichtig. Ich liebe dich. Papa“
„Danke, Ben“, sagte Denise gerührt, löste sich aus der Umarmung und betrachtete neugierig den Briefumschlag. „Was ist da drin?“
Ben Hakim entnahm dem Umschlag einige Fotos. „Dies sind Bilder von der Beerdigung der beiden KORE-Kämpfer, die in dem Helikopter getötet wurden.“
„Sie sind schon beerdigt?“, fragte Denise verwundert. „Die hatten es aber eilig!“
„Ja. Es war eine sehr gut abgeschirmte Veranstaltung mit ausgesuchten Gästen. Fragt nicht, wie ich an die Fotos gekommen bin.“
Er schob Denise und Sando den kleinen Stapel zu. Das erste, was beiden ins Auge fiel, waren zwei Frauen, die den Trauerzug anführten. Die Mütter der Toten. Eine jede trug eine Uniformmütze vor sich her. Darauf waren deutlich Zahlen zu erkennen: eine Fünf und eine Neunzehn, jene Nummern, die die Kämpfer auf ihren Helmen getragen hatten.
„Ich habe die Namen der Frauen in Erfahrung gebracht.“ Ben Hakim tippte auf die linke der beiden, deren Gesicht von einem schwarzen Tuch umhüllt war. Ihre Augen, von dunklen Ringen umschattet, blickten ins Leere. „Dira Serfouch. Marokkanerin.“
„Und die Frau neben ihr? Sie sieht europäisch aus.“
Das Bild zeigte eine rothaarige Frau, die mit ausdrucksstarken, fast stechenden Augen in die Kamera blickte.
„Pia Kramer, eine Deutsche. Ich bin da auf einen interessanten Artikel gestoßen, der sie betrifft.“
Ben Hakim blätterte umständlich die Fotos durch, fand aber nichts. Ratlos schaute er in die Runde, worauf Denise den Umschlag, in dem die Fotos gesteckt hatten, inspizierte. Sie förderte einen kleinen Zeitungsausschnitt zutage. Der kleine Engel las vor:
Rückkehr nach 500 Jahren
Noch immer trägt ihr Gesicht die Spuren des Grauens. Fünfhundert Jahre Hades hat Pia Kramer hinter sich. Nun endlich ist das Opfer der Inquisition rehabilitiert worden. Die rothaarige Frau, die einst als Heilerin durch Dörfer und Städte zog, hatte den Argwohn der christlichen Religionswächter geweckt. Krankheiten, so hieß es, seien eine Strafe Gottes, und Heilung mit teuflischen Kräutern sei Hexenwerk, eine Gotteslästerung. Nach hochnotpeinlicher Befragung durch die Inquisition gestand Pia Kramer, mit dem Teufel im Bunde zu sein. Das Urteil lautete: Tod durch Verbrennung auf dem Scheiterhaufen. Als die Seele der Geschundenen Einlass in Katharsia begehrte,
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