Katharsia (German Edition)
Tischplatte, wo die Kugel auftreffen musste.
„Eins, zwei und … drei!“ Denise ließ die Kugel fallen.
Ein leises Plopp ertönte und eine kleine Nebelwolke waberte vor den Augen des Alten. Langsam breitete sie sich aus.
Denise faltete nervös die Hände. Sie traute sich kaum zu atmen, geschweige denn, mit den Flügeln zu flattern, denn jeder Luftzug würde die Wolke schneller auseinandertreiben.
Einige Sekunden verstrichen, ohne dass etwas passierte.
Nun mach schon, Ben , dachte Sando nervös. Gleich ist der Nebel verschwunden.
Der Alte starrte unverwandt in das weiße Gewaber, als wollte er es hypnotisieren. Und endlich begann es langsam, sich zusammenzuballen. Es drehte sich wie ein Kreisel, wurde dichter und dichter. Ein leises Pfeifen erfüllte den Raum. Wahrscheinlich war inzwischen ein fester Gegenstand entstanden, dessen Kanten die Luft durchschnitten. Eine Form war durch die schnelle Drehung aber noch nicht auszumachen. Gespannt beobachtete Sando dieses Schauspiel. In Miniaturgröße spielte sich vor seinen Augen ab, was ihm im Kokon widerfahren war.
Von einem Moment zum anderen hörte das Kreiseln auf und mit einem scheppernden Geräusch landete eine kleine Brosche auf dem Tisch. Denise klatschte aufgeregt in die Hände und krallte sich das Schmuckstück. Sie hielt es mit der Hand umschlossen wie einen gefangenen Marienkäfer. Vorsichtig führte sie ihre kleine Faust zum Gesicht, hob ein wenig die Finger und lugte hinein.
Ihre Gesichtszüge gefroren augenblicklich und mit einer Gebärde stummen Leides legte sie die Brosche auf den Tisch.
Sando erkannte auf Anhieb das Problem: Der Stein in der Mitte war nicht dunkelgrün, wie es sich Denise so ausdrücklich gewünscht hatte. Wenn man es positiv ausdrückte, zeichnete er sich durch einen rötlichen Schimmer aus – und wollte man der Wahrheit ins ungeschminkte Gesicht sehen, musste man zugeben: Der Stein war rosa!
„Ähm …“, begann Ben vorsichtig. „Also … nun ja …“
Sando hatte alle Mühe, nicht lauthals zu lachen, als er sah, wie sich der Alte unter Denises Blicken wand.
„Irgendwie … also zum Kleid passt das eigentlich … so Ton in Ton?“
Denise schwieg erbarmungslos, ins Gesicht einen stummen Vorwurf gemeißelt.
Ben hielt es nicht mehr aus und barmte: „Ach, Denise! Es ist halt eine Brosche! Sieh mich doch nicht so an!“
Der enttäuschte Engel senkte den Blick und ließ die Flügel hängen.
Sando überlegte, ob er mit seiner Wunschkugel versuchen sollte, Denise zu ihrer Traumbrosche zu verhelfen, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Vielleicht ist es besser , dachte er, ich überrasche sie mit etwas, womit sie gar nicht rechnet.
„Du bist dran“, sagte Denise mit matter Stimme. „Weißt du schon, was du dir wünschst?“
Sando überlegte ein Weilchen und sagte dann: „Ich denke schon. Es kann losgehen.“
Er ließ seine Kugel auf die Tischplatte fallen und konzentrierte sich auf die entstandene Nebelwolke. Wieder passierte über Sekunden nichts.
Bloß nicht ablenken lassen , dachte er. Den gewünschten Gegenstand im Kopf, sah er den Nebel so suggestiv an, wie er konnte.
Und endlich geschah es: Die Wolke geriet zu einem Strudel, der sich schneller und schneller drehte, dann ein helles Geräusch, es klang wie ein Zwitschern, das Kreiseln ließ nach und schließlich klimperte etwas Silbernes auf den Tisch.
Sando legte schnell die Hand darauf.
„Was war das?“, wollte Denise wissen. „Komm, zeig mal!“
„Ich will erst sehen, ob es gelungen ist.“ Sando hob ein wenig die Hand, sodass nur er das Ergebnis begutachten konnte.
„Oho“, sagte er überrascht. „Dass es auf Anhieb so gut klappt, hätte ich nicht gedacht.“
Er nahm seine Hand weg und Denise staunte. „Es sind ja gleich zwei Teile! Kleine Silberkettchen mit dünnen Stäben an den Enden. Was soll das sein?“
Sando fasste mit Daumen und Zeigefinger eines der Kettchen in der Mitte und hob es hoch. Es klimperte zart, als die herabhängenden Metallstäbe aneinanderstießen.
Denise machte große Augen. „Das sind Ohrgehänge! Sind die etwa für mich?“
Sando nickte.
„Du hast deine Wunschkugel für mich geopfert? Sando, das kann ich doch gar nicht annehmen!“
Denise stürzte auf den Jungen zu und drückte ihn stürmisch. Durch die hohen Schuhe, die sie trug, war sie fast auf Augenhöhe mit ihm. Er spürte ihre Brust an der seinen und nicht, wie sonst, an seinem Bauch. Ihr frisch getöntes Haar roch nach einem süßlichen Parfüm,
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