Katharsia (German Edition)
liegt unweit von hier im Atlasgebirge. Es ist ein streng bewachtes Höhlensystem, das tief in den schwarzen Fels hineinführt.“
„Fast wäre ich auch in den Hades gekommen“, sagte Sando und eine Gänsehaut überkam ihn.
Ben Hakim horchte auf. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na ja … es gab Gegenstimmen in Ihrer Kommission.“
„Das ist richtig.“ Der Alte sah Sando offen ins Gesicht. „Wenn ich mich recht erinnere, hat es in deiner Biografie ein Opfer gegeben. Ein Junge ist wohl ertrunken.“
„Mike Lemming“, sagte Sando tonlos. „War er an der Abstimmung beteiligt?“
„Es ist üblich, dass die Opfer hinzugezogen werden.“
„Es hätte böse enden können für mich – oder?“
Ben Hakim lächelte. „Die Hürde für eine Ablehnung und die Einweisung in den Hades ist sehr hoch, Sando. Die Kommission muss sie einstimmig beschließen. Stimmt auch nur einer für die Aufnahme der Seele in Katharsia, muss sie willkommen geheißen werden. Du warst zu keinem Zeitpunkt gefährdet, Junge.“
„Und wer verdient nach einhelliger Meinung der Kommission den Hades?“
Der Mittelfinger des Alten nahm erneut Kurs auf die Augenbraue. „Das hat sich über die Jahrhunderte geändert. Was als schweres Verbrechen gilt, hängt von den Moralvorstellungen ab, mit denen die Menschen aufwachsen. Im Mittelalter landeten neben Mördern auch Ketzer und Hexen im Hades. Frauen, die ihr Kind abgetrieben hatten, wurden als Kindsmörderinnen betrachtet und ihre Seelen weggeschlossen. Obwohl Delikte wie Gotteslästerung oder Abtreibung bis heute ein Streitpunkt in der Kommission sind, ist Einstimmigkeit in der Verurteilung nicht mehr zu erzielen. Daher haben wir die Fälle aus der Vergangenheit rehabilitiert, das heißt, die betreffenden Seelen wurden aus dem Hades entlassen. Und was ich für eine besondere Errungenschaft halte: Heute gelten auch Kriegsverbrecher als Mörder. Und zum Hades verurteilt werden auch Diktatoren und Schreibtischtäter, die sich nie selbst die Hände schmutzig machen.“
„Und Gotteskrieger?“, fragte Sando beklommen.
„Auch die werden nicht aufgenommen in Katharsia“, antwortete der Alte ohne zu zögern.
„Aber sie behaupten doch, ihre Tat führe sie direkt ins Paradies.“
„Tja, Sando, vielleicht gibt es für sie irgendwo ein Paradies – Katharsia ist es jedenfalls nicht. Ich gehöre zu den muslimischen Mitgliedern der Kommission und glaub mir, unter uns gibt es keinen, der die Gewalttaten der Gotteskrieger gutheißt.“
Denise spürte Sandos Unwohlsein und kämpfte mit einer Welle des Mitgefühls. Sie nahm die Hand des Jungen und sagte: „Du kannst Ben vertrauen. Auch er ist religiösen Eiferern zum Opfer gefallen und würde nie zulassen, dass solche Leute hier aufgenommen werden.“
Der Alte nickte schweigend.
„Hatten Sie auch mit Gotteskriegern zu tun?“, fragte Sando.
„In gewissem Sinne schon“, antwortete Ben Hakim schleppend und seine Stimme wurde mit jedem Wort brüchiger, „sie nannten sich nur anders.“ Er stockte und atmete tief ein.
Denise nahm seine Hand: „Verzeih, Ben! Lass es, wenn du nicht darüber sprechen willst.“
Doch der Alte hatte sich bereits wieder gefangen. Er schaute Sando an, dass ihn fröstelte. „Es handelte sich um Kreuzritter. Ich war dabei, als sie in Jerusalem einfielen.“
In seinen Augen glitzerte es feucht. Er stand auf und verabschiedete sich, mit einer müden Handbewegung verlegen seine Tränen trocknend.
„Ich glaube, ich sollte jetzt schlafen gehen. Morgen ist wieder ein harter Tag.“
Sando schaute dem Alten, der sich mühsam mit seinem Gehstock entfernte, betreten nach. Kreuzritter , dachte er. Hatte nicht der Geiselnehmer im Bus auch von Kreuzrittern gesprochen?
In dieser Nacht wälzte sich Sando unruhig im Bett herum. Die Vorstellung einer finsteren Macht, die Maria in ihre Gewalt gebracht hatte und die vielleicht ganz Katharsia bedrohte, mischte sich mit dem Bild jammernder Seelen in den finsteren Verliesen des Hades. Sie wimmelten in der Luft, verwandelten sich unversehens in Schlingpflanzen, die Mike Lemming mit einer gierigen Umarmung in die Tiefe des Schwarzen Sees zogen. Vom Ufer her schrie es, hallte wieder und wieder …
Sando saß aufrecht im Bett. Er war jetzt hellwach, doch der Schrei dauerte an. Nur allmählich ebbte er ab, verwandelte sich in diesen unbeschreiblichen Klagelaut, der die Welt dort draußen zu beherrschen schien. Überdeutlich drang er herein. Dann eine tröstende Frauenstimme und das
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