Katharsia (German Edition)
Geheimgang sein, wird er abtauchen in die Erde, weg von den Barbaren, sich hinüberretten in die Sicherheit der Stadt. Doch da hockt jemand auf der Falltür. Es ist Achmed mit der Lanze im Mund! Ben stürzt auf ihn zu, greift nach dem Spieß, will seinen Freund befreien. Doch die Hand geht ins Leere. Ben stolpert und fällt in den Staub.
Das erste, was er wieder wahrnimmt, ist Brandgeruch. Seine Nerven schlagen Alarm. Stammt der beißende Rauch von dem Feuer, das Achmed zugedacht ist? Sofort sind die Bilder wieder da. Ben versucht, dagegen anzukämpfen, seine Augen zu öffnen. Doch die Lider sind schwer und scheuern wie Sand auf den Augäpfeln. Stöhnend schiebt er sie einen Spalt breit auf.
Grelles Tageslicht blendet ihn. Wie lange mag er hier gelegen haben? Mühsam stemmt er sich hoch. Die Luft flirrt in der Hitze. Längst hat sich der Schatten der Stadtmauer zurückgezogen und ihn der erbarmungslosen Sonne ausgeliefert. Er hebt die Hand an die Augen und schaut sich um. Wo kommt er her, der Brandgeruch? Unten im Tal kann er nichts entdecken. Unversehrt wabern die Zelte der Kreuzfahrer in der aufgeheizten Luft. Und doch, etwas ist anders als sonst.
Das Licht! Es herrscht ein seltsam fahles Licht. Ben hebt seinen Blick zum Himmel. Dunkle Rauchschwaden ziehen vor der Sonne entlang. Sie kommen aus Richtung Stadt. Irgendwo dort muss ein großer Brand sein!
Jetzt nimmt er auch dieses Geräusch wahr: ein auf- und abschwellendes Tosen, das über die Mauer herüberschwappt. Was mag dahinter vorgehen? In der Ferne entdeckt Ben den Belagerungsturm. Das grob gezimmerte Holzgerüst steht jetzt dicht an der Stadtbefestigung, doch auf den Zinnen regt sich nichts. Die Schlacht dort scheint schon geschlagen. Sind die Kreuzfahrer bereits in Jerusalem?
Ben ist auf einmal hellwach. Rasch öffnet er die Klappe zum Geheimgang und gleitet hinein. Dort ist die Fackel, die Achmed für den Rückweg bereitgelegt hat. Sie will nicht brennen. Ein letzter Versuch mit Stahl und Feuerstein, dann gibt er es auf. Er tastet sich hinein in die Finsternis, nimmt Schrammen und Beulen in Kauf.
Irgendwann wird es hell. Der Gang endet, stößt geradezu auf eine Lehmwand. Der Ausgang, durch den das Licht fällt, liegt seitlich. Nur noch eine Brettertür trennt Ben von der Stadt. Er zögert, sie zu öffnen, denn dahinter scheint die Hölle ausgebrochen zu sein: dröhnendes Krachen, dumpfe Schläge, hektisches Fußgetrappel und Waffengeklirr, dazu ein vielstimmiges Jaulen, Röhren und Heulen, entsetzliche Laute, denen nichts Menschliches mehr eigen ist.
Ben zuckt zusammen: Etwas ist von außen gegen die Tür gekracht. Männerstimmen schreien sich in einer fremden Sprache etwas zu. Dann Schritte, die sich rasch entfernen. Mit zitternden Händen drückt Ben gegen das raue Holz, doch die Tür gibt nicht nach. Offenbar hat etwas Schweres sie verkeilt. Er wirft sich mit seinen Schultern dagegen, immer wieder. Ohne Erfolg. Es scheppert nur in den rostigen Beschlägen.
Bei dem Lärm werden mich die Kreuzfahrer entdecken , befürchtet Ben und er beschließt, es im Sitzen mit der Kraft seiner Beine zu versuchen. Vielleicht kann er den schweren Gegenstand auf diese Weise wegschieben.
Er lässt sich auf den Boden nieder, stemmt die Füße gegen die Unterkante der Tür. Stückweise gibt sie nach. Eine letzte Anstrengung noch, dann müsste es reichen.
Fest stützt er die Hände auf den Boden. Eben war er noch trocken, jetzt ist da etwas, was sich feucht anfühlt. Ben hebt seine Hände. Sie sind voller Blut. Mit einem Schrei des Ekels springt er auf. Auch sein Kaftan ist besudelt. Das Blut fließt unter der Tür herein. Ben steht mit seinen Schuhen bereits in einer großen Lache.
Nur raus hier! Durch den Türspalt sieht er den Kopf eines Toten. Er ist es, der den Ausgang blockiert. Er liegt da und schaut mit gebrochenen Augen zu ihm herein.
Ben schaudert. Vorsichtig zwängt er sich durch den Spalt, bemüht, dem Toten nicht ins Gesicht zu treten.
Endlich ist er draußen. Überall in der Gasse längs der Wehranlagen liegen Leichen. Kreuzfahrer, Muslime und Juden, Angreifer und Verteidiger der Stadt im Tode vereint, viele grausam zerstückelt, aufgeschlitzte Bäuche, abgetrennte Gliedmaßen. Es stinkt bestialisch und Schwärme schwarzer Fliegen laben sich an Blut und Gedärm. Ben hält den Atem an und läuft los. Sein Vaterhaus ist nicht weit. Er will zu seinen Eltern, hofft, ihnen ist nichts geschehen. Um jeden Toten schlägt er einen möglichst großen Bogen.
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