Katharsia (German Edition)
sieht aus wie der finstere Eingang einer Höhle. Den Flötenspieler, dessen Musik nun unvermittelt abbricht, können sie nicht sehen.
Eine der Gestalten, ein grobschlächtiger, rotgesichtiger Kriegsmann, auf dessen Umhang ein weißes Kreuz leuchtet, löst sich aus der Gruppe. Er tritt abseits in den Schatten und zerrt mit rauem Gebrüll einen Jungen ins Licht. Gregor! Er ist dürr, fast bis zur Unkenntlichkeit abgemagert.
Ben und Achmed sehen sich entsetzt an.
„Sie lassen ihn verhungern, die Schweine!“, stößt Achmed hervor.
Der Rotgesichtige hebt Gregor auf wie eine Feder, trägt ihn zum offenen Heck des Planwagens und knallt ihn mit dem Gesäß auf die Ladefläche. Gregor schreit auf vor Schmerz, wimmert dann, doch der Kerl hält ihm ungerührt etwas hin, einen länglichen Gegenstand, eine Flöte. Als Gregor nicht reagiert, packt der Kreuzfahrer fluchend seinen Kopf und drückt ihm die Flöte gewaltsam zwischen die Zähne.
Achmed zittert vor Wut. Seine Faust umkrampft den Seldschukendolch. Wie ein Tiger ist er bereit zum Sprung.
„Bist du wahnsinnig?!“ Ben packt ihn beim Arm.
Achmed reißt sich los. „Ich hole ihn dort raus!“
„Du schaffst es nicht, Achmed! Sie sind in der Überzahl!“
„Und du bist ein Feigling! Wir können doch nicht untätig zusehen, wie sie Gregor …“
Ben hält ihm den Mund zu und raunt: „Sieh mal, dort!“
Aus dem Zelt ist ein Kreuzfahrer getreten, offenbar der Anführer der Gruppe. Eine vornehme Erscheinung mit fein geschnittenen Gesichtszügen. Seine Kleidung in Rot-Gelb wie das Zelt, offenbar die Farben seiner Familie, sitzt akkurat, zeigt keinerlei Spuren eines entbehrungsreichen Kreuzfahrerlebens. Mit der Selbstsicherheit eines Edelmannes, der es gewohnt ist, Respekt zu bekommen, hebt er die Hand zu einem leichten Wink.
Sofort lässt der Rotgesichtige von Gregor ab. Stille herrscht nun im Rund. Aufmerksam verfolgen die Kreuzfahrer jede Bewegung ihres Anführers.
Der Edle geht zum Feuer, lässt sich einen Napf geben und hält ihn dem Mann am Kochkessel hin. Der langt mit einem Schöpflöffel tief in das dampfende Gefäß hinein und befördert einen Schlag dicker Suppe mit nahrhaften Brocken in die Schüssel. Damit geht der Edle gemessenen Schrittes auf Gregor zu.
Ben und Achmed folgen gebannt dem Geschehen. Sie können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie Zeuge einer Zeremonie sind. Auf halbem Wege zu Gregor bleibt der Edle plötzlich stehen, den Napf in der Linken, die Rechte fordernd zur Seite gestreckt. Jemand legt stumm einen Holzlöffel hinein. Endlich tritt der Anführer an den Karren heran, in dem Gregor sitzt, und reicht ihm Suppe und Löffel hin. Dabei spricht er ihn mit angenehm ruhiger Stimme an, eine Geste tiefer Symbolik: Der Wohlhabende speist den Bedürftigen.
Und dann geschieht das Unbegreifliche: Gregor schüttelt den Kopf. Er weigert sich, zu essen! Ben und Achmed sehen sich ratlos an. „Warum tut er das?“, fragt Ben.
„Vielleicht, weil sie ihn gefangen halten?“, rät Achmed.
„Aber deswegen hungert man sich doch nicht zu Tode.“
Achmed fasst seinen Dolch fester. „Hör gut zu, Ben! Ich versuche, von der Schattenseite aus in die Karre zu kommen. Dort drin sieht mich niemand und ich kann Gregor verständigen, dass wir mit ihm fliehen werden, wenn die Gelegenheit günstig ist. Vielleicht baut ihn das auf und er isst etwas.“
„In Ordnung. Und ich?“
„Du bleibst hier und beobachtest weiter, was geschieht.“
Bevor Ben etwas erwidern kann, ist Achmed in der Dunkelheit abgetaucht. Nur sein Dolch blitzt noch einmal auf im Widerschein des Feuers.
Ben wendet seine Aufmerksamkeit wieder dieser eigenartigen Zeremonie zu. Verführerisch rührt der Edle vor Gregors Augen in der Suppe, hebt einen Löffel voll heraus und lässt einzelne Brocken mit einem platschenden Geräusch in den Napf zurückfallen. Gregor krümmt sich, würgt, doch sein Magen hat nichts, was er hergeben könnte. Dafür tropft grüne Galle aus seinem Mund.
Die Kreuzfahrer haben offenbar auf diesen Ausgang gelauert, denn sie lachen lauthals. Der Edle wendet sich mit einem Ausdruck des Bedauerns von Gregor ab und beginnt auf dem Weg zurück in sein Zelt, die verschmähte Suppe selbst zu löffeln. Das ist für seine hungrige Truppe offenbar das Zeichen. Sie lassen sich von dem Hünen am Kessel ihre Näpfe füllen und essen mit lautem Schmatzen und stöhnenden Wohllauten.
Ben weiß nicht, was er von der Sache halten soll. Warum weigert sich Gregor zu
Weitere Kostenlose Bücher