Katharsia (German Edition)
Nach dem dritten wird ihm die Luft knapp. Seine Lunge verlangt nach einem Atemzug. Er biegt in eine Gasse, die in die Innenstadt führt. Hier liegen keine Leichen. Noch ein paar Meter, um Abstand zu gewinnen von den Ausdünstungen des Todes, dann saugt er sich die Lungen voll.
Stimmen nähern sich, harte Schritte auf dem Pflaster. Ben huscht hinter einen Mauervorsprung, wagt einen kurzen Blick. Von der Innenstadt her kommt ein halbes Dutzend Kreuzfahrer durch die Gasse. Mit klopfendem Herzen drückt er sich tief in die Nische. Er hört ein lautes Pochen. Ungeduldiges Schreien.
Ben lugt aus seinem Versteck hervor. Die Kreuzfahrer stehen mit gezückten Waffen vor einem Haus, das mit reichen Verzierungen versehen ist. Aus dem Obergeschoss schaut ein Mann heraus und winkt beschwichtigend mit den Armen. „Ich komme ja schon“, ruft er, während er vom Fenster verschwindet. Wenige Augenblicke später öffnet sich unten zaghaft die Tür. Die Kreuzfahrer stoßen sie weit auf und zerren den Mann auf die Straße. Einer hebt das Schwert und spaltet ihm den Schädel, als wäre es eine alltägliche Verrichtung.
Ben schaut hin, er kann nicht anders. Die Kreuzfahrer sind zu beschäftigt, um ihn zu bemerken. Einer setzt sich auf den Toten und schlitzt ihm den Kaftan an der Brust auf. Die anderen schauen nach seinen Fingern, tasten Arme und Beine ab. Doch nichts, kein Schmuck, weder am Hals noch an den Händen, kein Beutel mit Gold. In ihrer Wut zerhacken sie die Leiche mit ihren Schwertern. Dann stürmen sie das Haus.
Drinnen erhebt sich Geschrei, schrill, markerschütternd, Frauen und Kinder in Todesangst. Dumpfe Schläge. Dann herrscht Ruhe. Im Obergeschoss fliegt ein Fenster auf. Eine junge Frau will springen, es scheint ihr letzter Fluchtweg zu sein. Sie zögert – nicht jedoch der Kreuzfahrer, der sie hinabstößt in den Tod. Er blickt ihr nicht einmal nach. Eilig verschwindet er wieder, wohl um sich seinen Anteil an der Beute zu sichern.
Ben schaut hin, ohne es wirklich zu begreifen. Das Grauen ist so groß, dass es ihn nicht mehr erreicht. Er will sein Versteck verlassen, da kommt einer der Plünderer aus dem Haus und ruft etwas. Im Fenster, aus dem die junge Frau gestürzt ist, erscheint eine große Truhe, sie bekommt Übergewicht und knallt auf das Pflaster. Jubelgeschrei ertönt. Aus dem zerbrochenen Möbel quellen silberne Gefäße, Münzen und Schmuck, dazwischen Blut und Eingeweide. Die eisenbeschlagene Kiste hat die tote Frau getroffen. Ben starrt auf den Arm, der zwischen einem glänzenden Pokal und einem Trümmerstück aus Holz herausragt. Weitere Marodeure tauchen in der Gasse auf, nähern sich beutelüstern dem verstreuten Schatz. Sie werden mit gezückten Waffen empfangen. Nach einigem Geschrei weichen die zu spät Gekommenen zurück und versuchen ihr Glück in anderen Häusern. Sie brauchen nicht lange, um sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen.
Ben hastet los, den mörderischen Tumult, der nun aus den Häusern dringt, in den Ohren, vorbei an dem Trupp, der sich gerade unter euphorischem Lachen die Taschen vollstopft. Die Männer blicken ihm nach, drohen mit den Fäusten, haben aber offenbar keine Lust, ihren Schatz allein zu lassen, um einen Jungen zu verfolgen. Ben biegt rasch in eine kleine Verbindungsgasse, die nur von nackten Mauern gesäumt wird. Sie führt geradewegs auf die Straße, in der Ben wohnt. Hier gibt es keine Hauseingänge, keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Ben hofft, dass er hier keinem Kreuzfahrer in die Arme läuft.
Der Lärm, der ihm von vorn entgegenschallt, ist markerschütternd. Als er das Ende der Gasse erreicht, presst er sich mit dem Rücken an die Mauer und lugt vorsichtig auf die Straße hinaus.
Er erstarrt.
Alles, was er bisher gesehen hat, war nur das grausige Vorspiel dessen, was er nunmehr vor Augen hat. Menschen werden aus den Häusern getrieben, wo bluttriefende Schwerter und Spieße sie empfangen. Es gibt keine Gnade. Wie im Rausch schlagen die Marodeure zu, zerhacken die Leiber und je reichlicher das Blut fließt, desto eifriger metzeln sie. Über der Straße, die bergan führt, hängt ein Dunst wie im Schlachthaus. Die grau schimmernde Kuppel des Felsendomes spiegelt sich im Blut, das knöchelhoch vom Haram es-Sharif, dem Tempelberg, her talwärts fließt. Die Männer mit dem Kreuz auf den Umhängen, vom Hunger gezeichnete Gestalten, waten wie berauscht im dampfenden Blut, rutschen aus, wälzen sich darin, richten sich wieder auf, um das nächste Opfer
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