Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
ich dich begleiten?“ fragte ich.
„Nein, Kleines“, erwiderte Harry mit einem tiefen Seufzer, „hoffen wir, daß Lily recht hat und es sich um einen Irrtum handelt. Aber wenn es Saul ist, wird es eine Weile dauern. Ich möchte die... ich möchte dafür sorgen, daß er überführt wird...“
Harry gab mir einen Abschiedskuß, entschuldigte sich noch einmal für den traurigen Abend und ging.
„Mir ist ganz übel“, stöhnte Lily, als er gegangen war. „Harry hat Saul wie einen Sohn geliebt.“
„ Ich glaube, wir sollten ihm die Wahrheit sagen...“
„Sei doch nicht so verflucht edel“, schimpfte Lily. „Wie sollen wir ihm erklären, daß du Sauls Leiche vor zwei Tagen in der UNO gesehen, aber vergessen hast, es beim Essen vorhin auch nur zu erwähnen? Denk daran, was Mordecai gesagt hat.“
„Mordecai schien zu ahnen, daß diese Morde geheimgehalten werden. Ich glaube, ich sollte mit ihm darüber sprechen.“
Ich bat Lily um seine Telefonnummer. Sie warf mir Carioca in den Schoß und ging zum Sekretär, um sich ein Blatt Papier zu holen.
„Es ist nicht zu fassen, was für einen Scheiß Lulu hier ablädt“, sagte sie, als sie vor dem scheußlichen rotgoldenen Sekretär stand. Lily nannte Llewellyn immer „Lulu“, wenn sie sich über ihn ärgerte. „Die Schubladen klemmen, und diese häßlichen runden Messinggriffe sind einfach unmöglich.“ Sie schrieb Mordecais Telefonnummer auf einen Notizblock und reichte mir das Blatt.
„Wann fliegst du?“ fragte sie.
„Nach Algerien? Am Samstag. Aber wir werden kaum noch Zeit haben, länger miteinander zu reden.“
Ich stand auf und gab Lily Carioca zurück. Sie hielt ihn hoch und rieb ihre Nase gegen seine, während er versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien.
„Vor Samstag kann ich dich ohnehin nicht mehr sehen. Ich werde in Klausur sein und mit Mordecai Schach spielen, bis das Turnier in der nächsten Woche weitergeht. Aber wenn wir etwas Neues über den Mord an Fiske oder Saul erfahren, wie können wir dich erreichen?“
„Ich weiß nicht. Ihr könntet ein Telegramm an mein Büro schicken. Sie werden mir alle Post zustellen.“
Wir einigten uns darauf. Ich ging hinunter, und der Pförtner rief mir ein Taxi. Als ich durch die rabenschwarze Nacht fuhr, dachte ich noch einmal über alles nach, was bislang geschehen war. Aber mein Kopf war ein einziges wirres Knäuel, und in meinem Bauch saß bleischwer die nackte Angst. In stummer Verzweiflung wartete ich, bis der Wagen vor meinem Apartmenthaus vorfuhr.
Ich drückte dem Taxifahrer ein paar Scheine in die Hand, rannte, so schnell ich konnte, zum Eingang und durch die Halle. Ich druckte aufgeregt auf den Fahrstuhlknopf und spürte plötzlich, wie mir jemand auf die Schulter klopfte. Vor Schreck wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen.
Es war der Nachtpförtner mit meiner Post.
„Entschuldigen Sie, daß ich Sie erschreckt habe, Miss Velis“, sagte er. „Ich wollte Ihnen nur noch die Post geben. Wie ich höre, verlassen Sie uns am Wochenende?“
„Ja, ich habe der Verwaltung die Adresse meines Büros gegeben. Ab Freitag können Sie alle Post dorthin schicken.“
„Sehr gut“, sagte er und wünschte mir eine gute Nacht. Ich fuhr nicht sofort in mein Apartment, sondern bis hinauf auf das Dach. Nur die Hausbewohner kannten den Notausgang, der zu der riesigen, mit Steinplatten belegten Terrasse führte, von der man einen großartigen Blick über ganz Manhattan hatte. So weit ich sehen konnte, glitzerte unter mir das Lichtermeer der Stadt, die ich so bald verlassen würde. Die Luft war sauber und frisch. In der Ferne sah ich das Empire State Building und das Chrysler-Hochhaus.
Ich blieb etwa zehn Minuten dort oben, bis ich glaubte, meinen Magen und meine Nerven wieder unter Kontrolle zu haben. Dann fuhr ich mit dem Fahrstuhl hinunter zu meiner Wohnung.
Das Haar, das ich auf die Türklinke gelegt hatte, lag noch dort. Also war in meiner Abwesenheit niemand in der Wohnung gewesen. Aber als ich aufschloß und in den Flur trat, wußte ich sofort, etwas stimmte nicht. Ich hatte das Flurlicht noch nicht eingeschaltet und bemerkte einen schwachen Lichtschein aus dem Zimmer. Bei mir brannte nie Licht, wenn ich nicht zu Hause war.
Ich schaltete das Flurlicht ein, holte tief Luft und ging langsam durch den Flur. Auf dem Flügel stand eine kleine kegelförmige Lampe, mit der ich die Noten auf dem Notenständer beleuchten konnte. Man hatte sie so gerichtet, daß sie den großen Spiegel über dem Flügel anstrahlte. Ich
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